Temposchutz: 30 ist das neue 50
In Österreich ist Tempo-30 im Ortsgebiet derzeit die zu begründende Ausnahme. Warum eine Regelumkehr beim Tempolimit im Ortsgebiet Sinn ergibt und die Entschleunigung der Straße längst überfällig ist.
ANALYSE: Roland Romano und Philipp Schober
ILLUSTRATIONEN: Daniela Bernold
Hand aufs Herz, wo möchten Sie wohnen? Entlang einer Straße, wo Autos und Lkw mit bis zu 50 km/h fahren dürfen oder an einer Straße, wo Tempo 30 eingehalten wird? Der hohe Nutzen von Tempo-30 im Ortsgebiet ist heute unbestritten. Dennoch ist die Umsetzung vielerorts schwierig – die Sache ist jedoch in Bewegung.
30 Jahre Tempo-30
Beginnend mit einer zweijährigen Testphase hat Graz bereits im Jahr 1992 als erste Stadt Tempo-30 für ihr Ortsgebiet erlassen – damit war die steirische Landeshauptstadt internationaler Vorreiter. Auf allen Nebenstraßen und damit auf rund 80 Prozent des Straßennetzes gilt seither eine maximale Fahrgeschwindigkeit von 30 km/h.
In Graz verringerten sich in der Folge die Unfälle mit Personenschaden um 20 Prozent, wobei fast 80 Prozent aller Unfälle in den wenigen verbliebenen Tempo-50-Straßen stattfanden. Der Radverkehr nahm in Graz in weiterer Folge in den 1990er-Jahren deutlich zu, im Unterschied zu anderen Städten, wo noch Tempo-50 galt. Auch wenn am Anfang die gefahrene Durchschnittsgeschwindigkeit in der Stadt nur geringfügig sank – konkret von 37,1 km/h auf 36,6 km/h in den ersten sechs Monaten – nahm das Tempo doch immer weiter ab. Mit dem Tempolimit kamen weitere Effekte: Das Verhalten aller Verkehrsteilnehmenden verbesserte sich signifikant. Autofahrer*innen wurden rücksichtsvoller, Fußgänger*innen selbstbewusster. Radfahrende wurden nur mehr halb so oft von Kfz überholt wie vorher. Eine feststellbare Veränderung der Verkehrsmittelwahl blieb damals allerdings aus. Die Autoren der begleitenden Studie führten dies u.a. darauf zurück, dass Zufußgehen und Radfahren in Graz schon vor der Einführung von Tempo-30 sehr beliebt waren.
Wo Tempo-30 zur neuen Norm wird
Tempo-30 rettet Leben, senkt die Lärmbelastung und schützt die Umwelt, weil der Fahrzeugverkehr gleichmäßiger fließt. Diese Erfahrungen haben inzwischen viele Städte international gemacht; sie sind durch zahlreiche Studien gut belegt. Weltweit haben bereits mehr als 200 Städte großflächig Tempo-30 umgesetzt, von Kleinstädten über mittelgroße Städte bis hin zu Hauptstädten wie Amsterdam, Paris und Brüssel mit bis zu 85 Prozent der Straßen im Stadtgebiet.
Helsinki erreichte 2019 dank kontinuierlicher Temporeduktion als erste Hauptstadt Europas das Ziel der „Vision Zero“: Keine Fußgänger*innen und keine Radfahrenden kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Im Mai 2021 führte Spanien als erster EU-Staat landesweit Tempo-30 im Ortsgebiet ein. Dies gilt auf Straßen mit einem Kfz-Fahrstreifen je Richtung, Tempo 20 auf Straßen mit nur einem Fahrstreifen. Auf zwei- und mehrspurigen Straßen dürfen Autos noch bis zu 50 km/h fahren. In Wales wurde im September 2023, begleitet von einer breit angelegten Kampagne, landesweit 20 mph – umgerechnet rund 32 km/h – im Ortsgebiet eingeführt.
Auch österreichische Städte und Gemeinden versuchen vermehrt Tempo-30 nicht nur in einzelnen ausgewählten Straßen nach §43 StVO, sondern auch flächig einzusetzen. Besonders Vorarlberger Gemeinden leisten hier Pionierarbeit. Zuletzt beschloss Bregenz die flächendeckende Tempo-30-Regelung auf Gemeindestraßen im Ortsgebiet nach § 20 Abs. 2a StVO – die Umsetzung soll im ersten Quartal 2024 erfolgen. Danach will die Stadt auch die Temporeduktion in sensiblen Bereichen auf innerstädtischen Landesstraßen prüfen lassen. Denn gerade dort, wo Landesstraßen durch Städte und Ortschaften führen, verursacht die hohe Höchstgeschwindigkeit Lärm- und Sicherheitsprobleme. Beispielgebend ist hier die Marktgemeinde Wolfurt, die bereits 2014 die erste Begegnungszone nach §76c StVO auf einer Landesstraße in Vorarlberg durchsetzte.
Derzeitige Rechtslage erleichtert Umsetzung im gesamten Ortsgebiet
Gemäß §20 Abs. 2 Straßenverkehrsordnung (StVO) beträgt seit 1960 die standardmäßige Höchstgeschwindigkeit im Ortsgebiet 50 km/h. Per Verordnung nach §20 Abs. 2a kann seit 1994 eine Ausnahme für eine geringere Höchstgeschwindigkeit im gesamten Ortsgebiet festgelegt werden, wenn diese „geeignet erscheint“. Aufgrund dieser Regelung ist eine Geschwindigkeitsbeschränkung fürs ganze Ortsgebiet erheblich leichter umsetzbar als auf einzelnen Straßen, wo laut §43 StVO, eine „Erforderlichkeit“ durch aufwändige Gutachten samt Grundlagenerhebung von Verkehrsdaten, Gefahrenmomenten (z.B. nachweisbare Unfallhäufungen) und Ähnlichem verlangt wird. Die Fernhaltung von Gefahren und Belästigungen wie Lärm, Geruch oder Schadstoffen allein reicht hingegen ebenso wenig wie die Gründe Klimaschutz, Klimawandelanpassung sowie Lebens- und Aufenthaltsqualität.
Kann Novelle der StVO Pattsituationen künftig verhindern?
Sowohl Gemeinden auf Gemeindestraßen, als auch Länder bei Landesstraßen im Ortsgebiet sind bei Tempo-Reduktionen auf Bewilligung durch die Straßenverkehrsbehörde angewiesen – welche die StVO aus Gründen der Amtshaftung häufig sehr streng auslegt. Trotz gutem Willen aller Beteiligten entstehen dadurch Pattsituationen, die Verkehrsberuhigung im Ortsgebiet verhindern.
Die 35. Novelle der StVO, die einen Ausweg aus diesen Pattsituationen bieten will, soll im Sommer 2024 in Kraft treten. Künftig soll es für die zuständigen Straßenbehörden einfacher werden, in Bereichen mit besonderem Schutzbedürfnis – also vor Schulen, Kindergärten, Freizeiteinrichtungen, Spielplätzen, Krankenhäusern oder Seniorenheimen – die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zu verringern, wenn diese Maßnahme geeignet ist, die Verkehrssicherheit (insbesondere von Fußgänger*innen oder Radfahrenden) zu erhöhen. Was die Novelle außerdem vorsieht: Dass die Gemeinden die Tempo-Limits auch selbstständig mittels Radarmessung überwachen können.
So sollen Gemeinden künftig Radarkontrollen selbst durchführen können. Voraussetzung ist eine entsprechende Übertragungsverordnung des Landes. Bisher konnten die Gemeinden nur dann Radarkontrollen durchführen, wenn sie über einen eigenen Gemeindewachkörper verfügten, was aber nur in 1,9 Prozent aller Gemeinden der Fall war. (Auch nicht in Wien und in keiner einzigen Gemeinde im Burgenland.)
Schnellfahren ist nur in Österreich ein Kavaliersdelikt
Messungen zeigen den großen Handlungsbedarf seit Jahrzehnten. Das Kuratorium für Verkehrssicherheit hat 2023 erneut gemessen und eineinhalb Millionen Geschwindigkeitsmessungen in Tempo-30-Zonen veröffentlicht. Das Ergebnis: 72 Prozent der Kfz-Lenker*innen fahren schneller als erlaubt.
Das hat mehrere Ursachen: Es gibt in den bestehenden Tempo-30-Zonen kaum Kontrollen. Vor Bestrafung wird in Österreich eine ominöse „Straftoleranz“ vom Messwert abgezogen. Die Strafen sind im internationalen Vergleich sehr gering und darüber hinaus nicht einkommensabhängig. In Österreich ist das Schnellfahren – als einziges Land in der EU – noch immer kein Vormerkdelikt im Führerscheinregister.
Aufgrund dieser unbefriedigenden Situation haben sich mehr als 280 Gemeinden und Städte – unter Federführung des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ) und unterstützt von Radlobby und Städtebund – ab Mai 2023 zusammengeschlossen und fordern eine Reform der StVO, die eine Umsetzung von Tempo-30 erleichtert und einen zeitgemäßen rechtlichen Rahmen bietet.
Zentraler Punkt dabei: eine Prinzipienumkehr, die 30 km/h als Regelgeschwindigkeit im Ortsgebiet festlegt. Dort, wo es die Verkehrssicherheit etc. zulässt, können höhere Geschwindigkeiten zugelassen werden. Diese sollte zur begründenden, seltenen Ausnahme werden und das neue Prinzip auch den Sachverständigen die Verkehrssicherheitsarbeit wesentlich erleichtern.
Gute Nachricht für Politiker*innen: Temposchutz ist mehrheitsfähig
Die Erfahrungen mit der Umsetzung von Tempo-30 in Graz und vielen anderen Gemeinden zeigen, dass die Maßnahme typischer Weise vor Einführung eine geringe Zustimmung erfährt – dass sich aber die Zustimmung in der Bevölkerung nach Einführung erhöht Je länger Tempo-30 gilt, umso deutlicher steigt die Akzeptanz.
Und hier liegt auch die gute Nachricht für Verkehrspolitiker*innen: Tempo-30 und Verkehrsberuhigung bringen nicht nur Vorteile für die Menschen; die Maßnahmen sind auch mehrheitsfähig und erhöhen die Zufriedenheit von Wählerinnen und Wählern…