Hunderttausende Menschen in Österreich leben mit einer Behinderung. Vielen von ihnen ist das Radfahren trotz oder gerade wegen ihrer Einschränkungen wichtig, eine breite Palette an Spezialrädern und Hilfsmitteln macht es möglich. Selbst blinde Menschen können Rad fahren – auf Tandems mit sehenden Personen. Hier erzählen vier Menschen, wie sie trotz ihrer Beeinträchtigungen Rad fahren und was es für sie bedeutet. Was bei der Suche nach Autor*innen für diesen Schwerpunkt auffiel: Behinderte Menschen zu finden, die Rad fahren, ist leicht. Behinderte Menschen zu finden, die sich im Alltag mit dem Fahrrad fortbewegen, ist schwer. Der Grund, der dafür genannt wurde, war immer der gleiche: Die Infrastruktur erlaubt es nicht. Was behinderte Menschen beim Radfahren einschränkt, ist offensichtlich nicht ihr Körper – es ist unsere Stadt- und Verkehrsplanung.

Texte: Sebastian Gruber, Regina Jung, Jürgen Paier, Cornelia Scheuer, Illustrationen: Irma Tulek.

Sebastian Gruber
30 Jahre, Bürokaufmann, Wien

Ich bin seit Geburt behindert. Verschiedene Tests und Untersuchungen haben in meinem ersten

Lebensjahr gezeigt, dass ein Teil meines Kleinhirnes zu klein ist. Das äußert sich in meinem Balancegefühl, meiner Sprache und in meiner allgemeinen motorischen Kontrolle. Die Ärzt*innen haben meinen Eltern gesagt, dass ihr Sohn nie gehen und sprechen wird.

Aber ich habe sehr viele Therapien gemacht, unter anderem Voltigieren und Delphintherapie. Mit sechs Jahren konnte ich mit einem Rollator gehen und habe meine ersten Sprechversuche gemacht. Seit meinem zehnten Lebensjahr kann ich vollständig gehen und sprechen.

Mit drei Rädern und Klickpedalen

© Stefan Fürtbauer für andererseits

Ich arbeite als Bürokaufmann bei der Allianz, habe einen DJ-Club mitgegründet und spiele Fußball in der Behinderten-Nationalmannschaft (ich bin Tormann). Seit April 2020 bin ich Redakteur bei Andererseits. Das ist ein Onlinemedium, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt zusammenarbeiten.

Auf dem Rad die Sorgen vergessen

Ich bin das erste Mal mit sechs Jahren am Rad gesessen. Das war ein Kinderrad mit Stützrädern. Mit elf habe ich mit meinem eigenen Behinderten- Dreirad Radfahren gelernt. Ich bin damit zu meiner Voltigiertherapie gefahren und später immer längere Strecken.

2019 habe ich mir ein gebrauchtes Renndreirad der Marke „Wulfhorst“ gekauft. Mit drei statt zwei Reifen und mit Klickpedalen, wo man die Rennradschuhe einklippst, sieht mein Gefährt auf den ersten Blick ungewöhnlich aus. Die Hinterreifen sind parallel, dazwischen baumelt ein Gepäckträger mit Seitentaschen.

Mit einem normalen Rad würde ich das Gleichgewicht verlieren und umfallen, aber vom Radfahren hält mich das nicht ab. Im Gegenteil: 36, 55, 68 oder auch einmal 120 Kilometer zeigen meine Einträge in der Sport-App Strava.

Am liebsten fahre ich die langgestreckte Donauinsel entlang oder nach Orth an der Donau. Dort ist der Radweg breit, und es sind meist nur wenige Leute unterwegs. Sogar nach Tulln oder Krems fahre ich sowie auf viele Berge. Seit 2021 fahre ich das ganze Jahr durch, egal bei welchen Temperaturen, außer bei Regen, Schnee und Eis. Im Jahr 2022 bin ich bis jetzt 2.600 Kilometer gefahren.

Radfahren bedeutet Freiheit und viel Spaß für mich. Beim Radfahren vergesse ich den Alltagsstress, und es ist für mich – so wie alle Sportarten – eine versteckte Therapie. Viele Leute meinen, es sei nur Sport oder eine schöne Freizeitaktivität, aber das stimmt nicht so ganz. Wenn ich Rad fahre, schwebe ich in einer anderen Welt und vergesse meine Behinderung und alle anderen Probleme und Sorgen.

In der Stadt fahre ich sehr ungern, für mich mit meinem Dreirad sind viele Radwege in Wien gefährlich. Menschen mit Lastenrädern, Kinderanhängern oder Handbikes haben ein ähnliches Platzproblem. Selbst die baulich getrennten Radspuren sind für mich meist nicht optimal. Besonders gefährlich sind abschüssige Straßen und Wege, zum Beispiel die Abfahrt von der Praterbrücke. Deswegen fahre ich nicht mit dem Rad in die Arbeit, auch wenn ich das eigentlich sehr gerne tun würde. Der Weg über die Praterbrücke und quer durch die Stadt ist mir zu mühsam und zu gefährlich.

Damit ich in der Stadt mehr Rad fahren kann, müssten die Radwege breiter und besser ausgebaut werden. Mir würde es helfen, wenn man auf manchen mehrspurigen Straßen, zum Beispiel am Ring, aus einer Autospur eine Spur für Fahrräder macht. Dort, wo Radstreifen auf der Straße verlaufen, könnte man eine kleine Schwelle bauen, damit die Autos nicht so leicht in meine Spur kommen.

 

Regina Jung
59 Jahre, Pensionistin, Wien

Die Oma mit dem einem Bein und dem coolen Dreirad, so nennen mich die Kinder in der Seestadt. Mein sonnengelber Easy Rider und ich, eng verbunden mit einem Klickpedal, sind ein echtes Dreamteam.

Meine Radkarriere begann in den 1960er-Jahren mit einem gelben Dreirad, die Schulzeit durchfuhr ich mit meinem geliebten roten Klapprad. Zum Dorfkindleben gehörte Radfahren selbstverständlich dazu.

Durch die Toskana und die Provence

Wegen eines Tumors musste ich mich mit 14 Jahren von meinem rechten Bein verabschieden. Ob mit oder ohne Prothese, Radfahren war mit einem sogenannten Pedalkorb möglich, aber mühsam in unserer hügeligen Gegend. Das Fahrrad verlor immer mehr an Bedeutung, ab 18 bestimmte mein Auto meine Mobilität. Anfang des Jahrtausends weckten ein Freund und ein Falt-Tandem, das in mein Auto passte, wieder meine Freude am Radeln. Mit ihnen konnte ich die Niederlande, die Toskana, die Provence und die Camargue erfahren. So viele Erlebnisse an wundervollen Orten, die ich ohne dieses Rad nie erreicht hätte.

Im Februar 2015 brachte mich mein zweiter Herzinfarkt körperlich und psychisch heftig aus der Balance. Das Gefühl ständiger Überforderung begleitet mich seither. Der Lärm und die Hektik der Stadt, Termine, selbst Schönes wie Verabredungen mit Freund*innen oder meine Aktivitäten in der Performanceund der Schwimmgruppe: alles zuviel. Auf jegliches „Müssen“ folgen Panikattacken, depressive Episoden und tiefe Erschöpfungsphasen.

Die Suche nach einem möglichst barrierearmen, ruhigen Lebensumfeld in Wien zog mich im Sommer 2015 in die Seestadt. Hier kann ich mich relaxt mit den Krücken durch den Alltag bewegen. Mein Auto verkaufte ich.

Irgendwann lockte die Nähe von Lobau und Donauinsel, der Wunsch nach mehr Bewegung wurde stärker. Ich stieß auf das Sessel-Dreirad „Easy Rider“ von Van Raam und verliebte mich sofort. Das Rad ist perfekt für meine Bedürfnisse, es gibt mir die nötige Unabhängigkeit, Stabilität und Sicherheit. Ich kann die Motor-Unterstützung individuell dosieren und so sowohl gemütliche Ausfahrten als auch Trainings absolvieren; mit 100 Kilometern Akku- Reichweite sind tolle Touren möglich.

In den vergangenen fünf Jahren habe ich über 13.000 Kilometer mit dem Easy Rider zurück gelegt. Manchmal nutze ich das Rad für Besorgungen im Alltag, doch am liebsten mache ich längere Ausflüge. Auch bei der Critical Mass und ähnlichen Veranstaltungen fahre ich gerne mit.

Der lange Weg aus dem Trauma

Mein Easy Rider bereichert mein Leben sehr. Er erweitert meine Mobilität in Stadt und Land, ist Sport- und Therapiegerät und Unterstützung auf dem langen Weg aus dem Trauma. Gut tun auch die vielen Kontakte auf meinen Touren: Hier ein hochgereckter Daumen mit freundlichem Lächeln, dort ein „cooles Radl!“ oder „hey, super!“, immer wieder interessante Gespräche und neue Freundschaften.

Von der Radfee, den politisch Verantwortlichen und der Rad-Community wünsche ich mir mehr inklusives Denken und mehr Barrierefreiheit auch auf den Radwegen. Die Vielfalt an Radelnden und Rädern ist enorm und wächst ständig – das muss endlich in der Raumplanung berücksichtigt werden.

Jürgen Paier
48 Jahre, Buchhalter und Controller, Graz

Ich bin querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Sport war mir trotzdem schon immer wichtig. Früher habe ich Tischtennis gespielt, das war mir aber körperlich nicht anstrengend genug. Seit 2014 mache ich von Mai bis Ende Oktober fast jedes Wochenende eine Ausfahrt mit dem Handbike. Dabei kann ich mich körperlich richtig auspowern.

Ich besitze zwei Handbikes mit Elektro-Unterstützung: Ein Vorspannbike, das ich vorne an meinem Rollstuhl befestigen kann, und ein Liegebike.

Eine Zeit lang war ich vor allem mit dem Liegebike unterwegs. Dieses liegt im Vergleich zum Vorspannbike besser auf der Straße und rollt daher besser. Mit einem Vorspannbike ist außerdem das Befahren von steilen Strecken nicht möglich, weil das Vorderrad des Vorspannbikes mit zu wenig Gewicht auf die Straße drückt. Dank Elektro- Antrieb konnte ich mit dem Liegebike problemlos bis zu 100 Kilometer an einem Tag fahren – und wollte ich mich mehr anstrengen, reduzierte ich einfach die elektrische Unterstützung.

Mit dem Handbike die Natur erkunden

Das Liegebike hatte allerdings auch zwei große Nachteile: Das Umsteigen vom und in den Rollstuhl war schwierig und anstrengend. Und man kann sich mit dem Liegebike weder an einen Tisch setzen noch aufs WC gehen.

Seit mittlerweile zwei Jahren nutze ich daher nur noch das Vorspannbike. Da kann ich jederzeit das Antriebsrad abspannen und mit dem verbleibenden Rollstuhl aufs WC fahren oder mich an einen Tisch in der Gaststätte setzen. Zeitweise bin ich damit 100 bis 160 Kilometer pro Wochenende gefahren, derzeit sind es im Durchschnitt ungefähr 70 Kilometer.

Wandern ist mit einem Rollstuhl leider nicht möglich, daher bedeutet es mir sehr viel, dass ich mit dem Handbike die schöne Natur erkunden kann. Das Kurbeln beim Handbiken lockert außerdem meine Schultern, die vom dauernden Sitzen im Rollstuhl oft sehr verspannt sind, was auch zu Kopfschmerzen führt.

Seit 2016 organisiere ich in der Südsteiermark das „Weinlandbiken“, bei dem behinderte und nichtbehinderte Menschen zusammen radfahren.

Als Fortbewegungsmittel im Alltag nutze ich das Handbike nie. Auf vielen Strecken gibt es keine eigenen Radwege, und das Fahren auf der Straße wäre mir bei starkem Verkehrsaufkommen zu gefährlich.

Cornelia Scheuer
53 Jahre, Performerin, Tänzerin und Peerberaterin für Menschen mit Behinderung, Wien

Ich bin Rollstuhlfahrerin und benutze ein E-Handbike, das ich vor den Rollstuhl spannen kann. Es hat „Pedale“, die ich mit den Händen antreibe.

Ich verwende es als Sport- und Freizeitgerät. Ich komme damit ins Grüne, zum Beispiel in den Prater oder auf die Donauinsel – mit dem Rollstuhl alleine wäre das für mich zu weit und zu anstrengend.

Radfahren ist für mich Training und Freude, ich genieße die Mobilität, die Geschwindigkeit und die Unabhängigkeit, die es mir bringt.

Auf der Fahrbahn geht es nicht

Da ich das Fahrrad mit den Händen antreibe, während ich im Rollstuhl sitze, bin ich niedriger als andere Radfahrer* innen. Ich benutze daher prinzipiell nur Fahrradwege, die baulich von der Fahrbahn getrennt sind – auf der Fahrbahn hätte ich Angst, von Autofahrenden übersehen zu werden. Aus Angst vermeide ich auch das Radfahren zu Stoßzeiten.

Als Verkehrsmittel auf dem Weg zur Arbeit oder zu Besorgungen nutze ich das Fahrrad nie: Auf vielen Strecken ist kein Radweg vorhanden. In der Freizeit ist mir das egal, dann fahre ich notfalls eben langsam am Gehsteig. Wenn ich Zeitdruck oder einen Termin habe, stresst mich das aber zu sehr.

Das einzige Mal, dass ich das Handbike als Verkehrsmittel benutzt habe, war, als ich beruflich einen Monat in Kopenhagen verbracht habe. Das Radwege- Netz dort ist unglaublich sicher und gut ausgebaut. In neuen Häusern gibt es viele Abstellplätze für Fahrräder, sodass ich barrierefrei zu meinem Rad kam und es einfach an den Rolli schnallen und wegfahren konnte.

Ich wünsche mir ein Radwegenetz und ein Linksabbiege-System für Fahrräder wie in Kopenhagen. Es wäre toll, wenn unsere Verkehrsplaner*innen einmal einen Ausflug dorthin machen würden – natürlich mit dem Rad.

Menschen mit Behinderung in Österreich

819.700 Menschen in Österreich haben mittelschwere oder schwerwiegende Probleme mit der Beweglichkeit.

39.900 weitere sind auf einen Rollstuhl angewiesen.

53.000 Menschen in Österreich haben schwerwiegende Probleme beim Sehen.

59.500 Menschen in Österreich haben geistige Probleme oder Lernprobleme.

(Quelle: Mikrozensus-Zusatzerhebung
der Statistik Austria 2015
(befragt wurden Menschen
ab 15 Jahren in Privathaushalten)
broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?publicationId=428

 


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