Radeln bei minus 20 Grad? In Oulu ganz normal
Unsere Autorin widmete ihre Masterarbeit der „Fahrradhauptstadt des Winters“. Wie kommt es – wollte sie wissen – dass die Menschen im finnischen Oulu auch bei minus 20 Grad nicht auf ihr Fahrrad verzichten?
BERICHT und FOTOS: Isabel Scherer ILLUSTRATIONEN: Luli Tolentino
Vor gut zwei Jahren zog es mich für mein Studium nach Finnland. Obwohl ich in Deutschland das ganze Jahr über Rad fahre und mir Regen und Wind meist wenig ausgemacht haben, war ich etwas skeptisch, wie man im Winter bei Minusgraden und Schnee radfahren sollte. Das änderte sich mit meinem Besuch bei einer Fahrradkonferenz in Oulu.
Oulu, eine Stadt in Nordfinnland mit rund 200.000 Einwohnern, ist als die „Fahrradhauptstadt des Winters“ bekannt. Der Radverkehrsanteil im Modal Split liegt dort im Sommer bei 22% und selbst im Winter bei 10% (was genauso hoch ist wie der Anteil im Sommer in Helsinki). Die Stadt macht ihrem Titel also alle Ehre.
Infrastruktur als Basis zum Erfolg

Die Finn*innen sind bekannt für ihre zähe Natur. Allerdings zeigt uns die Stadt Oulu, dass man gar nicht ganz so hart im Nehmen sein muss, um bei minus 20°C in den Sattel zu steigen.
Der Besuch in Oulu faszinierte mich so sehr, dass ich mich dazu entschied, das Thema „Fahrradkultur im Winter“ in meiner Masterarbeit zu analysieren. Während wir im deutschsprachigen Raum den Begriff „Fahrradwetter“ nutzen, der indirekt impliziert, dass Radfahren lediglich eine Schön-Wetter- Aktivität ist, hat die Stadt Oulu es geschafft, Menschen selbst bei harten Wetterbedingungen auf dem Fahrrad zu halten. Stellt sich die Frage: Wie ist das möglich?
Wenn man Verkehrsplaner*innen in Oulu nach den Hauptfaktoren für den Erfolg der Stadt fragt, erhält man zunächst zwei klare Antworten: die gut ausgebaute Radinfrastruktur sowie der qualitativ hochwertige Winterdienst.
Vor Ort merkt man dann sofort, was gemeint ist: Die Stadt verfügt über ein Radwegenetz von mehr als 950 Kilometer Länge, das größtenteils vom Autoverkehr getrennt verläuft. An den Kreuzungspunkten mit dem motorisierten Verkehr sorgen mehr als 320 Unterführungen dafür, dass Routen ohne Unterbrechung verlaufen.
Winterdienst
Das ausgeklügelte Radwegesystem hat Oulu dem Verkehrsplaner Mauri Myllylä zu verdanken, der in den 1960er-Jahren begann, in der Stadtverwaltung zu arbeiten. Während seines Studiums verbrachte Myllylä ein Austauschsemester in den USA und sah dort die negativen Auswirkungen des Autoverkehrs. Er entschloss sich, Oulu vor einem ähnlichen Schicksal als „Autostadt“ zu bewahren und setzte sich fortan für den Ausbau des Radverkehrs in Oulu ein. So entstand die Idee eines gut befahrbaren Radwegenetzes, abgetrennt vom motorisierten Verkehr. Mit Wegen, breit genug, um im Winter von Traktoren geräumt zu werden.
Oulu verfolgt das Ziel, im Winter keinen einzigen Radweg sperren zu müssen. Das bedeutet, alle Radwege werden durch einen eigenen Winterdienst geräumt, welcher nur für das Radwegenetz zuständig ist.
Das Winterdienstpersonal ist verpflichtet, selbst eine bestimmte Distanz mit dem Fahrrad auf den Radwegen zurückzulegen, um zu erfahren, was ein gut geräumter Radweg bedeutet. Seit ein paar Jahren wurde sogar eine „Superklasse“ für den Winterdienst eingeführt: Diese umfasst rund 165 km der Hauptrouten des Radwegenetzes, welche rund um die Uhr an 365 Tagen gereinigt werden. Die Kosten für den Fahrrad-Winterdienst in Oulu belaufen sich auf ca. 400.000 € pro Jahr – was im Vergleich mit den Ausgaben anderer finnischer Städte für das Schneeräumen nicht signifikant größer ist.
Und was ist die Geheimzutat?
Die Frage bleibt jedoch: Sind gute Radwege und Winterdienst alles, was dafür nötig ist, damit die Menschen auch im Winter aufsatteln?
Während diese Faktoren zweifelsohne zum Erfolg der Fahrradstadt beitragen, bestätigte mir der aktuelle Radverkehrsplaner Oulus, Harri Vaarala, dass es noch eine Art „Geheimzutat“ braucht, welche die Planer*innen selbst nicht ganz greifen können.
Als Beispiel nannte er, dass man zwar die Infrastruktur und den Winterdienst aus Oulu in eine andere Stadt kopieren könne und dies sehr wahrscheinlich zu einem Anstieg im Radverkehr führen würde. Allerdings würde man damit nicht automatisch alle Bürger*innen zum Radfahren bewegen, insbesondere nicht im Winter.
Auf der Suche nach der „Geheimzutat” lieferte mir überraschenderweise eine Google Bildersuche erste Inspirationen. Wenn man nach „winter cycling“ oder „Radfahren im Winter“ sucht, erscheinen Bilder von sportlichen Radfahrenden, die sich mutig und tapfer durch das Winterwetter kämpfen – und meist männlich sind.
Gibt man stattdessen „winter cycling Oulu“ bzw. „Radfahren im Winter Oulu“ ein, offenbart sich ein ganz anderes Bild: Radfahren erscheint hier als eine alltägliche, gesellige Aktivität, die Spaß macht. Man sieht Bilder von Kindern, die gemeinsam zur Schule fahren oder Freundesgruppen, die sich gemeinsam auf dem Fahrrad unterhalten.
Oulu hat es also geschafft, aus der eher sportlichen und nischigen Winteraktivität etwas Alltägliches und Soziales zu machen, das für jeden geeignet ist – nicht nur für diejenigen, die „fit“ und „hart im Nehmen“ sind. Entscheidend ist die Fahrradkultur, sozusagen das „Bild“ der Radfahrenden einer Stadt, welches jede Stadt für sich prägt.
Bei den weiteren Interviews mit Expert*innen, Aktivist*innen und Lokal-Politiker*innen aus Oulu fiel mir auf, dass es für die meisten recht schwer war, die Fahrradkultur ihrer eigenen Stadt zu beschreiben – für sie war es doch völlig selbstverständlich, im Winter Fahrrad zu fahren.
Manche erzählten sogar, sie hatten den Begriff „Winter-Radfahren“ erst vor einigen Jahren zum ersten Mal gehört, da einige internationale Medien auf Oulu aufmerksam wurden und den Begriff immer wieder verwendeten. Für die Bevölkerung Oulus ist es schlicht „Radfahren“ – das ganze Jahr über.
Vorbildwirkung der Stadtverwaltung
Mit jedem weiteren Interview kristallisierten sich dennoch einige Hauptfaktoren heraus, die die Fahrradkultur in Oulu prägen: So bemüht sich etwa die Stadtverwaltung um Vorbildwirkung und stellt ihren Mitarbeitenden Fahrräder und E-Bikes zur Verfügung, die auch im Winter genutzt werden. Neben sicherer und attraktiver Infrastruktur seien auch die Planungsprinzipien Oulus transparent und zielgerichtet.
Winter Cycling Masterclass
„Es reicht nicht aus, bloß Geld zu investieren“, sagt etwa Harri Vaarala, „sondern es muss gezielt geplant und priorisiert werden“. Ein weiterer Faktor, der sozusagen als Nebeneffekt von guter Infrastruktur und gutem Winterdienst eintritt: „Die Bürgerinnen und Bürger begegnen der Stadtplanung und der Verwaltung mit Vertrauen“, erklärt er. Vertrauensbildend wirke auch, dass die Stadt aktiv und motivierend kommuniziert. Stadtplaner Vaarala stellt Fragen und Rückmeldungen seitens der Bevölkerung direkt in die sozialen Medien.
Statt bei Schneefall allein vor den Gefahren zu warnen und abzuschrecken, wird in Oulu informiert, dass die Radwege rechtzeitig geräumt wurden und man mit gutem Gewissen aufs Rad steigen kann.
Im Februar dieses Jahres durfte ich auch endlich selbst erleben, wie sich das Radfahren bei -20°C Grad anfühlt. Als Teil einer „Winter Cycling Masterclass“, einer Art Bildungsreise, war ich zusammen mit Vertretern aus Anchorage, Alaska sowie der Schweiz zu Besuch in Oulu. Bei einer mehrstündigen Fahrradtour erkundeten wir das Radwegenetz Oulus und es war beeindruckend, wie vielen Menschen wir unterwegs auf dem Fahrrad, zu Fuß oder sogar auf Ski begegnet sind. Die Temperaturen halten in Oulu also wirklich niemanden davon ab, draußen aktiv zu sein.
Und wie lässt es sich nun bei minus 20°C radeln? Sobald man sich mit dem Fahrrad in Bewegung hält, spürt man die Kälte kaum. Zudem helfen zusätzliche Handwärmer in Handschuhen und Schuhwerk. Nur längeres Stillstehen sollte man vermeiden – die priorisierte Radwegführung in Oulu kommt einem dabei glücklicherweise sehr entgegen. Harri bestätigte uns zudem, dass man als Einheimischer bei solchen Temperaturen normalerweise keine mehrstündige Fahrradtour unternimmt, sondern die alltäglichen Wege oft weniger als 15 Minuten dauern.
Und ich muss sagen – das Radfahren hatte auch etwas Meditatives. Alle Geräusche schienen durch den Schnee ein bisschen gedämpfter und die weiße Landschaft war einfach nur bezaubernd – wie im Winter-Wonder-Land!
Was wir von Oulu lernen können
Jede Stadt besitzt das Potenzial, ihre Fahrradkultur aktiv zu gestalten. Das Beispiel von Oulu zeigt, dass die von den Gemeinden oft genannten Argumente, wie z.B. Kosten, Aufwand oder „Wir sind einfach keine Fahrradstadt“, nur bedingt Relevanz haben. Der Anspruch liegt nicht darin, Oulus Ansätze eins zu eins zu kopieren, da jede Stadt unterschiedliche Voraussetzungen hat. Oulu zeigt aber jedenfalls auf, wie „normal“ Radfahren – selbst unter scheinbar schwierigen Bedingungen – sein kann.
Fazit
Ich kann es jedem nur ans Herz legen, Oulu auch einmal persönlich zu besuchen, um sich ein eigenes Bild von der Fahrradhauptstadt des Winters machen zu können. Wem der Weg bis nach Nordfinnland allerdings zu weit erscheint, der kann sich online mit reichlich Artikeln, Videos und Dokumentationen zu dem Thema begnügen. Meine Masterarbeit mit dem Titel „A Framework for Understanding Winter Cycling Culture“ ist zudem online in der Datenbank der Aalto Universität verfügbar und bietet weitere Einblicke zum Thema Fahrradkultur.
Weiterführende Links zu Oulu:
→ NDR Dokumentation über Oulu
→ Video zu Radfahren in Oulu
→ Masterarbeit „Understanding Winter Cycling Culture“ Isabel Scherer