Unser Autor radelt mit Frau und Kleinkind durch den Süden Albaniens und erlebt dort rücksichtsvolle Autofahrer*innen, Wangenzwicker für seinen Sohn und Gastfreundschaft ungeahnten Ausmaßes.

KarteREISEBERICHT: Julian Walkowiak

Die größte Sorge vor meiner Vaterschaft war nicht etwa, in welche furchtbare Welt ich ein Kind setzen werde, sondern vielmehr, wie ich meinem Kind die schönen Seiten der Welt zeigen würde. Für mich gab es während der ergangenen 20 Jahre nämlich fast nur einen Weg – und zwar den auf dem Fahrrad. Für die eigenen Kinder will man bekanntlich nur das Beste, somit war klar: Das Kind wird von Anfang an Teil des Abenteuers sein und gewissermaßen ins Radfahren und Radreisen hineinwachsen. Die erste Radreise gab es dann im Alter von 7 Monaten durch Slowenien, gefolgt von einer Radtour durch Taiwan mit eineinhalb Jahren.

Abenteuerfaktor Albanien

Panoramafoto

Teils unberührte Landschaften und hin und wieder treibt ein Hirte seine Schafe durch die Gegend

Dieses Jahr wollten wir wieder in Europa bleiben und mit Kleinkind im Fahrrad-Anhänger nach Möglichkeit in trockenen Gefilden. Dank des gefühlt größten Abenteuerfaktors setzte sich bei der Länderwahl letztendlich Albanien durch: Vielversprechende Naturlandschaften, Küstenklima mit Badeoption, gut für die Geldtasche. Und allein schon aufgrund der An- und Abreise per Zug und Fähre müsste uns unser Sohn eigentlich schon anhimmeln, dachten wir uns. Und – Achtung, Spoiler! – so war es auch: Es lebe der Schienenverkehr und erst recht das schwimmende Haus!

Wer Albanien als Destination für eine Radreise wählt, dem wird bald klar: Viel Detailroutenplanung ist hier nicht möglich, da es insgesamt nur wenige Straßen gibt. Normalerweise bekommen wir nach Ankunft in einem Land ein Gefühl dafür, wie stark befahren die „großen“ Straßen sind, in welchem Zustand die „kleinen Straßen“ sind und wo es vielleicht gute Offroad-Alternativen gibt. Danach legen wir uns dann die Route. In Albanien ist diese Flexibilität leider nicht möglich.

Foto von Straße an der Küste Albaniens

Unterwegs an der Küste im Süden Albaniens

Gut für die Oberflächenversiegelungsbilanz – aber schlecht für Radreisende mit Kindern. Die Offroad-Wege sind meistens von ihrer Beschaffenheit zu „brutal“ für den zarten Kinderpopo. Nicht einmal das kreativste On- Board Unterhaltungsprogramm hält das Kind lang genug im Bohrschlaghammer- tanzenden Kindersitz. Die asphaltierten Straßen sind dann eben Straßen für alle. Lkw, Pkw mit Wohnwägen und die vielen Alltagspendelnden in ihren Kfz. Ganz selten gibt es Ausweichmöglichkeiten auf kleinere alternative Straßen, welche über Umwege zum selben Ziel führen.

Rücksichtsvolle Autolenker*innen

Unterwegs auf Albaniens StraßenPositiv überrascht war ich dann allerdings vom insgesamt rücksichtsvollen Fahrstil der Verkehrsteilnehmenden: Großzügige Überholabstände wie in Albanien kann man sich andernorts nur wünschen. Toll war auch das tagtägliche Hupkonzert der vorbeifahrenden Autos. Da gibt es ja bekanntlich zwei Melodien. Die eine singt „Schleich di!“, die andere singt „Geile Sache was ihr da macht, seid willkommen, go go go!“ Nachdem fast jedes Hupkonzert mit nach oben gestrecktem Daumen oder einem Lächeln kombiniert wurde, bin ich der Meinung, dass wir als radfahrende Familie gern gesehen und überholt wurden.

Gedeckter Tisch

Festschmaus in Gjirokastra, einer der ältesten Städte des Landes

Das bringt mich zum nächsten Punkt: Land und Leute. Das wirklich Schöne an Albanien ist, dass du Gastfreundschaft in einem für Europa ungewohnt hohen Ausmaß erleben kannst. Kaum eine Herberge, aus welcher wir ohne geschenkten Proviant (meistens Obst) abreisten. Kredenzt wird, was der eigene Obst- und Gemüsegarten zu bieten hat. Ebenso Tierhaltung für den Eigengebrauch. Zum Frühstück werden dann die Eier der eigenen Hühner gebraten.

Auch die Freude und Zuneigung gegenüber unserem Sohn war durch die Bank zu spüren und zu erleben. Geschenke (Obst, Zuckerl, kleine Spielzeuge) und der für unseren Sohn furchterregende Wangenzwicker gehörten zum täglichen Reise-Ritual.

„In Albanien wird nichts gestohlen“

Orientierungspause

Orientierungspause in der Nähe der Stadt Palasë mit spektakulären Ausblicken

Der größte Kulturschock für mich war neben den 200.000 verstreuten Bunkern im Land (Relikt des Diktators Enver Hoxha) die unglaubliche Gelassenheit der Albaner in Bezug auf Diebstahl.

Als Radtourist ist das eigene Fahrrad immer der heilige Gral, den es zu schützen gilt. Am liebsten würde man das Rad in jede Unterkunft reinquetschen, damit man ruhig schlafen kann und weiß, dass die Radtour am nächsten Tag auf jeden Fall weitergehen kann. Überall wo wir hinkamen (egal ob Stadt oder Land), hat man uns gesagt, wir müssten uns keine Sorgen machen und könnten die Räder einfach draußen stehen lassen, denn: „In Albanien wird nichts gestohlen.“ Wir merkten erst, dass dies kein Tourismus-Marketing-Geplaudere war, als wir feststellten, dass unsere Hosts teilweise die Schlüssel an der Haustür auch nachts draußen stecken ließen „damit man jederzeit gut ins Haus käme“. Wow! Für mich als Radfahrer paradiesische Zustände.

Kontrastreiche Aussichten

Panoramafoto Albanien mit einer Straße

Fahrrad-Infrastruktur sucht man in Albanien vergebens.

Unsere Zeit reichte lediglich, um die südliche Hälfte Albaniens zu erkunden. Dabei überquerten wir wunderschöne Berge, fuhren entlang von naturbelassenen Flüssen (Vjosa), kamen an den großen Ohridsee an der Grenze zu Nordmazedonien und fuhren entlang wirklich toller Küstenstraßen (Vlora bis Ksamil). Der Kontrast von Luxushotels mit geparkten Luxuskarossen an der Küste, bis hin zu Truthahn-Herden treibenden Opis im Landesinneren gehörten gleichermaßen zu unseren Eindrücken.

Fazit: Aufgrund der warmherzigen Menschen, der schönen Landschaften ist Albanien jedenfalls eine Radreise wert. Ich würde mein (Klein-)Kind allerdings nur ungern selbst am Rad fahren lassen oder es per Follow- Me (Tandemkupplung für Kinderrad) hinterherziehen. Mit Kleinkind am eigenen Rad geführt, fühlte ich mich durchwegs sicher und würde ohne Bedenken ein zweites Mal das Land bereisen (Erfahrungswert beruht auf Off-Season Verkehr im Oktober).

Wunsch ans Universum: Albanien hat atemberaubend schöne, aufgelassene Bahnstrecken. Der Radtourismus könnte durch einen Ausbau dieser Strecken hervorragend in den wachsenden Tourismus integriert werden.

Zahlen

Gesamtkilometeranzahl: 749

Gefahrene Höhenmeter: 8.930

Gesamtgewicht Rad + Gepäck + Kind: 42 Kilogramm