Die Fahrrad-Aktivistinnen von Charlotte
In den Vororten der Stadt Charlotte im US-Bundesstaat North Carolina betoniert Verkehrspolitik die Ausgrenzung von Einkommensschwachen. Drei Fahrrad-Aktivistinnen wollen das ändern. Eine Reportage von Karin Lukas-Cox.
“Bei dieser Rechtskurve ist es wichtig, so weit wie möglich links in der Fahrbahn zu fahren, damit euch die Autofahrer sehen.Habt keine Hemmungen: je sichtbarer, um so sicherer seid ihr – das ist die Grundlage“. Das ist Pamela Murrays „Pep Talk“ bevor wir eine kritische Stelle am Rande der Innenstadt in Charlotte, North Carolina, befahren. Die längere Ausfahrt durch die Straßen der Stadt ist Teil ihres Kurses „Cycling Savvy“ – das Wort „savvy“ kann man mit „geschickt und schlau“ übersetzen – , der Teilnehmenden in der 1,5 Millionen-Einwohner-Stadt das nötige Selbstvertrauen und die Sicherheit geben soll, das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel zu benutzen.
Pamela Murray – eine 1, 60 Meter große Frau mit breitem Lächeln – ist eine von einer Handvoll Fahrrad Aktivistinnen in der 1,5 Millionen Einwohner Metropole. Kurse wie der ihre sind bitter notwendig in einer Stadt mit einem Radfahrenden-Anteil von gerade einmal 0,25 Prozent und einer Mobilitätskultur, die vom privaten Automobil beherrscht wird und weite Teile der Bevölkerung strukturell diskriminiert.
„Wenn ihr im Straßenverkehr selbstbewusst auftretet“, erklärt Pamela, „seid ihr kein Hindernis. Im Gegenteil: ihr tut mit Eurer Sichtbarkeit allen Verkehrsteilnehmern einen Gefallen.“ Wie viele ihrer Kursteilnehmerinnen war ich anfangs skeptisch gewesen, als mich Pamela überreden wollte, den Kurs zu besuchen: Ich, die in elf Städten in fünf verschiedenen Ländern gelebt und geradelt war, hatte nichts dazu zu lernen. Oder doch?
Diskriminierende Verkehrsplanung
Ganz entgegen meiner ursprünglichen Erwartung sollte sich in den zehn Stunden des Kurses nicht nur meine ganze Einstellung zum Radfahren, sondern auch zu meinen Rechten
als Mensch auf der Straße ändern. Und zwar so fundamental, dass das, was ich
bei Pamela lernte, ein leitendes Prinzip in der Erziehung meiner Kinder wurde.
Zwanzig Jahre lang lebte ich mit meiner Familie in den USA, die oft das Land der unbegrenzten Möglichkeiten genannt werden. In Wirklichkeit sind die Möglichkeiten vieler hier begrenzt.
Rassismus und Diskriminierung bleiben allgegenwärtig; nur manifestieren sie sich heute seltener in Äußerungen. Sehr wohl aber in den historisch gewachsenen Rahmenbedingungen. Und Mobilität ist eine davon. Blickt man auf die urbane und diedemographische Entwicklung von Charlotte in den letzten Jahrzehnten, sieht man wie viele Afroamerikaner, durch Trends auf den Immobilienmärkten und – teilweise bewusst gesetzte – Maßnahmen beachteiligt wurden.
So wurde etwa ein wohlhabender, sehr lebendiger afro-amerikanisch dominierter Stadtteil in den 1960er-Jahren weggerissen, um Platz für ein dominantes „Government Center“ (samt Gefägnis!) zu schaffen. Die Bürgerinnen und Bürger wurden dann in einem Viertel neu angesiedelt, das durch einen Autobahnring vom Rest der Stadt abgeschnitten ist.
Schnellstraßen als Barrieren
Weil die Stadt wenig öffentliche Verkehrsoptionen hat und Autos für einkommensschwache Bevölkerungsschichten unerschwinglich sind, geht dieses geographische An-den-Rand-
Drängen mit ökonomischer und politischer Isolation einher. Dazu kommt, dass die Infrastruktur in den Vierteln der Einkommensschwachen minderwertig und mangelhaft ist. Schnellstraßen ohne ausreichend Querungsmöglichkeiten schaffen physische Barrieren. Um in die Schule zu gelangen, müssen Kinder hier täglich größere Hürden überschreiten als Kinder in wohlhabenderen Gegenden.
Spätestens seit der Veröffentlichung einer Harvard Studie zu sozioökonomischer Aufwärts-Mobilität im Jahr 2014, in der Charlotte unter den US-Metropolen den fünfzigsten und letzten Platz belegte, lässt sich die Bedeutung eines fairen Verkehrssystems nicht mehr ignorieren: Die Länge, die Sicherheit und die Zumutbarkeit der Wege bestimmen, ob ein Kind, das arm geboren wurde, jemals der Armut entrinnen kann.
Für Aktivistinnen wie Pamela ist es das Radfahren. Neben ihren monatlichen “Cycling Savvy” Kursen, organisiert sie “Slow Sunday”-Touren und Nachbarschaft-Nachtfahrten. Bei jedem Wetter ist sie dort anzutreffen – egal ob nur eine Person erscheint oder 175. Unbeirrbar und forsch fordert sie jeden heraus, das Radfahren nicht als Hobby der weißen Elite zu sehen, sondern als Chance für die Bewohnerinnen und Bewohner ihres Viertels.
Radfahren nicht nur für weiße Eliten
Im Stadtteil Cherry, der mehrheitlich historisch von Afro-Amerikanern, aber unter Druck von „Gentrification“ historische Substanz und schwarze Einwohner verliert, bewohnt wird, setzt sich die Lehrerin Bethanie Johnson für die selben Ziele ein wie Pamela. Ich lerne Bethanie im November vor Thanksgiving beim jährlichen „Cranksgiving“ Event kennen: hier versammeln Radfahrende des Vereins „Charlotte Spokes People“ zur Charity- Rad-Tour. Ziel: Essen für Bedürftige für das Thanksgiving-Fest zu sammeln. Nebeneffekt: der Fahrrad-Corso für den guten Zweck fällt auf und verschönert das Stadtbild.
Bethanie lernte im konservativen ländlichen Louisiana auf dem Rad ihres Bruders die Freiheit genießen, abseits einengender religiöser Vorstellungen. Obwohl es noch ein enormes Wachstumspotential an Fahrradbeteiligung gibt, brauche es viel Kraft und Idealismus, um die fest eingefahrenen Vorstellungen der Menschen zu ändern, erzählt Bethanie: „Leute zu ändern ist schwer!“
Deswegen zielt sie ihr Fahrrad-Aktivismus auf Kinder: „Kinder sind offen. Die lassen sich begeistern!“ Die ehemalige Soldatin der US-Armee führte an ihrer Schule einen “Bicycle Friday” ein, an dem sie mit bis zu vierzig Schülerinnen und Schülern in die Schule radelt. Im Sommer leitet sie “Bike Camps”. Inzwischen hält sie Vorträge bei lokalen „Community“- und Verkehrssymposien. Bethanie: „Ich bin stolz darauf, ein Teil dieser Frauen-Radgemeinschaft zu sein, um die Transportgewohnheiten in der Stadt zu ändern und die Straßen sicherer zu machen.“
„Radfahren macht die Beine sexy“
Begeisterung für das Radfahren finde ich auch bei Nadine Ford, die im Recycling-Center von Charlotte arbeitet. Die Abfall-Spezialistin lacht gerne herzhaft und ihre Sätze enthalten häufig
Ironie. Etwa, wenn sie sagt, dass sie so gerne radelt, „weil es meine Beine sexy macht“ oder wenn sie erklärt, dass sie „als Kind Radfahren gelernt und danach nie erwachsen geworden ist”.
Neben ihrem Einsatz für einen Verein schwarzer Radfahrerinnen, in dem es um Gesundheit, Gemeinschaft, Selbstbewusstsein und Spaß geht, sitzt sie im ehrenamtlichen Charlotte Bicycle Advisory Committee, dem Fahrrad-Ausschuss der Stadt. Dort kämpft sie dafür, das Fahrrad in den Gesamtverkehr zu integrieren. Besonders die einkommensschwachen Viertel sind ihr ein Anliegen, „damit die ausgegrenzten Nachbarschaften nicht vernachlässigt werden“.
Aus der Stadt wird ein Dorf
Sie erinnert gerne daran, wie immer zuerst die wohlhabenden Stadtteile von Fahrradinfrastruktur
und Mobilitätskonzepten profitieren. Obwohl die Bewohner dort das Fahrrad hauptsächlich für Freizeit-Fahrten verwenden, während in ärmeren Gegenden Fahrräder als Transportmittel gebraucht würden. Eine Problematik, die mit dem Schlagwort „Bike Lanes are white Lanes“ beschrieben wird. Nadine, Bethanie und Pamela sind in ihren Communities zu Führungspersönlichkeiten geworden.
Mit verschiedene Ansätzen arbeiten sie für das selbe Ziel: die Zahl der radelnden Menschen
zu vergrößern, Radfahren als selbständigen Teil des Verkehrs zu etablieren und ihre
Stadt lebenswerter und gerechter zu machen. Mit ihren Fahrrädern, mit ihrer Herzlichkeit und
der offenen Art, mit der sie auf die Menschen zugehen, schaffen sie völlig neue Perspektiven.
Auf einmal sieht man in der Stadt nicht mehr nur die Blechkolonnen, sondern entdeckt die
vielen idyllischen Straßen, die unterschiedlich gestalteten Häuser in diversen Nachbarschaften.
Man sieht mehr Kinder als zuvor und begegnet Menschen aller Hautfarben, Schichten
und Hintergründe. Fast erscheint es, als würde sich die große anonyme Stadt in eine Dorfgemeinschaft verwandeln. Auch das ein Nebeneffekt des Radfahrens.