Nirgendwo in Wien ist die Verkehrspolitik fahrradfeindlicher als in der Brigittenau. Wie Matthias Bernold in dieser Recherche zeigt, inszeniert sich die Bezirks-SPÖ als Auto-Partei ohne Rücksicht auf Zufußgehende und Radverkehr.

Geht es nach Bezirksvorsteher Hannes Derfler und SP-Bezirksparteiobmann Erich Valentin wird 2020 zum Jubeljahr. Am 24. März ist es 120 Jahre her, dass die Brigittenau vom 2. Bezirk getrennt und ein eigener Bezirk wurde. Für die 86.000 Bewohnerinnen und Bewohner der zwischen Donaukanal und Donau gelegenen Insel gibt es allerdings wenig Grund zum Feiern. Mit einem durchschnittlichen Jahresnettoeinkommen von 18.738 Euro (Quelle: Statistik Austria) ist der 20. Bezirk – nach Rudolfsheim-Fünfhaus – der Bezirk mit den geringsten Einkommen. Das Bildungsniveau ist nach Favoriten das niedrigste. Schließlich schneidet der Bezirk auch sonst dürftig ab: Kein Theater, keine Veranstaltungshalle gibt es hier. Vom Millennium-Tower abgesehen kein Kino. Während in anderen Bezirken Einkaufsstraßen wie die Ottakringer Straße oder die Meidlinger Hauptstraße verkehrsberuhigt, begrünt und saniert werden und zum wirtschaftlichen Aufschwung beitragen, kommen die Einkaufsstraßen in der Brigittenau immer weiter herunter.

Misere des Bezirks zeigt sich unter anderem in der Verkehrsplanung

Leerstand und Schmierereien prägen das Straßenbild. Gasthäuser, die seit Jahren leerstehen, 1-Euro-Shops, Frisiersalons und Handy-Läden. Familienbetriebe wie die Geschirrhandlung Compostella, die drei Generationen lang geführt wurden, lassen für immer die Rollläden herunter. Während andere traditionelle Arbeiter-Bezirke in den letzten Jahrzehnten eine Belebung durch neue Lokale, Galerien und Kulturinitiativen erlebten entwickelt sich die Brigittenau in die Gegenrichtung.

Vielleicht am deutlichsten zeigt sich die Misere des Bezirks in der Verkehrsplanung. Kfz-Lärm, Abgase, hohes Tempo in Nebenstraßen, ungehinderter Durchzugsverkehr in Wohngebieten sowie fehlende oder gefährliche Radinfrastruktur schaffen einen Straßenraum, der für Kinder, behinderte und betagte Menschen gefährlich und für alle anderen zumindest unbehaglich ist.

Wie wir in unserer Recherche zeigen werden, sind die Verkehrsprobleme im Bezirk einer zehnjährigen Politik der Verweigerung geschuldet, die sich an konkreten Zahlen und Fakten festmachen lässt. Neue Ideen, die Lebensqualität zu erhöhen wie sie in anderen Bezirken längst zum politischen Konsens aller Parteien geworden sind, werden im 20. Bezirk erstickt, Initiativen der Bürgerinnen und Bürger hintertrieben. Der verkehrspolitische Grundsatz lautet: „Wir werden alles verhindern, wenn es auch nur einen einzigen Parkplatz kostet.“

1. Wie viel investiert die Brigittenau in den Radverkehr?

Während in den meisten Wiener Bezirken an Lückenschlüssen und an der Optimierung des Radwegenetzes gearbeitet wird, tut sich in der Brigittenau: Nichts. Wie das Ausbauprogramm der Stadt Wien dokumentiert ist die Brigittenau der einzige Wiener Gemeindebezirk, der seit dem Jahr 2011 keinerlei Mittel aus dem Zentralbudget der Stadt Wien lukriert hat, um Radinfrastruktur zu errichten oder zu verbessern.

2. Wie gut ist die Radinfrastruktur im 20. Bezirk?

Die flache Brigittenau hat ein hohes Potential für den Radverkehr. Breite Straßenzüge würden Raum für sichere und komfortable Radwege bieten. Die Nähe zum Stadtzentrum und die Kompaktheit machen den Bezirk ideal zum Radfahren oder Zufußgehen. Dort, wo es Radinfrastruktur gibt, ist sie allerdings häufig unzureichend und offenkundig so ausgestaltet, dass sie den Radverkehr gegenüber anderen Verkehrsteilnehmenden diskriminiert. Beispiel: Der entlang der U6 verlaufende Radweg vom Donaukanal zur Donauinsel, vorbei an Brigittenauer Bad, weiter über die Leipziger Straße, Hellwagstraße und Universumstraße bis zum Millennium-Tower. Sobald der Radweg an ungeregelter Kreuzung eine Straße quert, wird er unterbrochen, obwohl teilweise Schutzwege für den Fußverkehr an der selben Stelle verlaufen. Dazu gibt es an der Strecke Bedarfs-“Bettel”-Ampeln mit absurd kurzen Ampelphasen und gefährliche Radwegsverengungen unter den Bahnbrücken.

Häufig wurden in der Vergangenheit Radwege auf Gehsteigen errichtet, was Konflikte mit Zufußgehenden provoziert. Selbst in breiten Straßen enden Radverkehrsverbindungen oft unvermittelt und werden – zick-zack – in Nebenstraßen umgeleitet. Wesentliche Verbindungen wie die Wallensteinstraße, die Klosterneuburger Straße oder die Jägerstraße sind überhaupt Radwegsfrei. Auch Fahrbahn-Sanierungen großer Straßenstücke werden – anders als in anderen Bezirken – nicht genutzt, um Fahrrad-Anlagen zu errichten.

Ein typisches Bild: Radwege enden vor Kreuzungen

3. Wie steht es um das Fahrradparken?

Einer der Faktoren, die Radfahren attraktiv machen, ist die ausreichende Ausstattung mit Stellplätzen. Während im gesamten Wiener Stadtgebiet die Zahl der Stellplätze jedes Jahr um rund 1.600 erhöht wird – insgesamt 49.101 waren es im Jahr 2019 (Quelle: MA46)- zeigt sich in der Brigittenau ein gegenteiliger Trend: Zwischen 2016 und 2019 wurden Radabstellplätze hier reduziert. Zählte die offizielle Statistik der Stadt im Jahr 2016 im 20. Bezirk noch 1.619 Stellplätze, waren es im Jahr 2019 nur noch 1.601.

Seit 2017 forderten Mitarbeitende, Kundinnen und Kunden der städtischen Bücherei in der Pappenheimgasse Fahrrad-Stellplätze vor dem Eingang zur Bücherei. Drei Jahre lang wurde die Forderung mit der Begründung abgewiesen, aus Parkplatzmangel könne man hier keinen einzigen Kfz-Parkplatz „opfern“.

4. Wie viele Autofahrende gibt es in der Brigittenau?

Mit einem Motorisierungsgrad von 283 Pkw pro 1.000 Einwohner (Quelle: Statistik Austria aus 2019) hat die Brigittenau den drittniedrigsten Motorisierungsgrad aller Wiener Bezirke. Auch die absolute Anzahl der gemeldeten Kfz in der Brigittenau sinkt kontinuierlich – trotz Bevölkerungszuwachs. Umso wichtiger wäre es, für diese – oft einkommensschwachen – Haushalte Alternativen zum privaten Kfz anzubieten, um deren Mobilität zu gewährleisten. (Dieselbe Verhinderungshaltung wie beim Radverkehr zeigt sich übrigens auch beim Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Etwa beim O-Wagen, der eigentlich zum Friedrich-Engels-Platz hätte verlängert werden sollen.)

6. Geht der Bezirk auf Wünsche von Bürgern und Bürgerinnen ein?

In den letzten Jahren organisieren sich Menschen vermehrt in zivilgesellschaftlichen Initiativen für eine umwelt- und menschenfreundliche Verkehrspolitik. So traf sich die Radlobby Brigittenau eineinhalb Jahre lang mit Vertretern und Vertreterinnen des Bezirks, um Vorschläge für wichtige Radrouten, Einbahnöffnungen sowie Radbügel einzubringen. Bisher verliefen allerdings alle Versuche, im Sand.

Aus der Nachbarschaft um den Hannovermarkt entstand die Initiative „Die 20erinnen“, die sich für eine Fußgängerzone rund um den Markt und für eine Verkehrswende im ganzen Bezirk einsetzt. Die Vorgangsweise von Seiten des Bezirks in der Auseinandersetzung mit Bürgern und Bürgerinnen ist dabei immer die gleiche: Gespräche führen, Gespräch in die Länge ziehen und letztlich alle Vorschläge verwerfen. Auf ähnliche Weise versucht der Bezirk alle Initiativen für eine alternative Straßennutzung zu verhindern: Anträge auf Errichtung einer Grätzloase im Bezirk werden grundsätzlich beeinsprucht. Begründung: Parkplatzmangel.

Demonstration für Radbügel vor der Städtischen Bücherei in der Pappenheimgasse

7. Warum diese Verkehrspolitik?

Blickt man auf die Ursachen für die Misere, kommt man an den Machthabern im Bezirk nicht vorbei: Bezirksvorsteher Hannes Derfler (seit dem Jahr 2008 im Amt) und der gut vernetzte Landtags-/Gemeinderatsabgeordnete Erich Valentin, der seit 2009 die Bezirkspartei leitet. Die rund zehnjährige Verhinderungspolitik des Bezirks bei der Verkehrspolitik fällt mit der (Nicht-)Schaffensperiode der beiden Politiker zusammen. Und deren politisches Kalkül zielt offenbar in die Richtung, die Bezirks-SPÖ als Auto- und Parkplatzpartei zu inszenieren. Ob sie ihrer Partei mit dieser Beton-Politik, die die Ziele der Stadt konterkariert, einen Dienst erweisen, wird sich weisen. Dem Bezirk und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern nutzt diese Politik jedenfalls nicht.

Reaktion der Bezirk-SPÖ / E-Mail-Korrespondenz

Um der Bezirksvorstehung der Brigittenau und der SPÖ des 20. Bezirks Gelegenheit zu geben, zu den statistischen Daten Stellung zu nehmen, habe ich per E-Mail folgende Fragen an Bezirksvorsteher Derfler und SP-Vorsitzenden Valentin geschickt:

1. Warum werden in der Brigittenau seit 2011 keine Radwege errichtet? (Quelle: Ausbauprogramm der Stadt Wien)
2. Warum werden in der Brigittenau seit dem Jahr 2016 Fahrrad-Stellplätze reduziert? (Quelle: Stellplatzzahlen der MA46: 2016: 1.619 Stellplätze, 2019: nur noch 1.601)
3. Warum nimmt der Bezirk grundsätzlich eine ablehnende Haltung ein, wenn es um verkehrsberuhigende Maßnahmen geht? (Beispiele: Begegnungszone Hannovermarkt, Grätzloasen, Tempo-30-Zonen, Öffnen von Einbahnen, …)
4. Inwieweit ist im Bezirk der Ausbau von öffentlichen Verkehrsmitteln (Straßenbahnlinien) angedacht?
5. Woran ist die Verlängerung des O-Wagens zum Friedrich-Engels-Platz letztlich gescheitert?
6. Inwieweit verträgt sich die Verkehrspolitik der Brigittenau mit den Zielsetzungen der Stadt Wien (Erhöhung des Radverkehrsanteils, Reduktion CO2-Ausstoß durch Kfz-Verkehr)?
7. Warum denken Sie, dass Begegnungszonen für die Brigittenau unpassend wären? (Quelle: Kurier, Derfler wird dort mit diesem Satz zitiert: „Bei uns gibt es keine Straße, die man sinnvollerweise in eine Begegnungszone umbauen kann“
8. Warum werden Straßensanierungen wie in der Klosterneuburgerstraße nicht – so wie in anderen Bezirken – zum Anlass genommen, auch Radinfrastruktur zu schaffen? 

Erich Valentin hat mir folgende E-Mail zurück geschrieben:

Sehr geehrter Herr Bernold,
danke für Ihr mail und danke für ihr Interesse an der erfolgreiche Verkehrspolitik der Stadt und des Bezirkes (Modal Split im europäischem Vergleich!!!). Auch was den Klimaschutz betrifft können wir auf erfolgreiche Programme der Vergangenheit (Klip 1 und 2) sowie richtungweisende Strategien (Klip 3, Smart City, Klimarat und Klimabudget) in Umsetzung verweisen.
In Absprache mit Herrn Derfler würden wir sie gerne zu einem Gedankenaustausch einladen. Ihr Fragenkatalog ist leider so nicht beantwortbar weil er zum Teil auf nicht faktenbasierenden Grundlagen und von uns nicht geteilten Annahmen beruht.
Geben sie uns doch bitte Nachricht, wenn sie eine Terminkoordination wünschen.
Mit freundlichen Grüßen,
Erich Valentin

Ich schrieb an Valentin zurück und bat ihn um einen Interviewtermin zwecks Gedankenaustausch, erhielt jedoch auf diese Nachricht keine Antwort mehr…


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