Bauen für neue Zeiten
Lebenswert, attraktiv und leistbar, grün und fahrradfreundlich: Stadtentwicklungsgebiete sollen den unterschiedlichsten Idealen entsprechen. Wie dies gelingt, analysiert unsere Autorin anhand von drei neuen Projekten
ANALYSE: Beatrice Stude
NORDBAHNHOF ⁄ WIEN
Ende der 1980er-Jahre beginnen die Überlegungen zur städtebaulichen Neustrukturierung des Nordbahnhofgeländes in Wien-Leopoldstadt. Auf Basis des Leitbilds von 1994 wird die erste Hälfte bebaut. Im Jahr 2012 wird ein Ideenwettbewerb ausgeschrieben. Auf dessen Grundlage und unter Partizipation der Bevölkerung entsteht das aktuelle städtebauliche Leitbild. Im Jahr 2025 soll der Rest – das Gebiet um die 12,5 Hektar große Freie Mitte – bebaut sein.
– 85 Hektar
– bis zu 10.000 Wohnungen & 20.000 Arbeitsplätze (gesamt)
– Bildungscampus
– 18,6 Hektar Park
– 20 Radminuten zum Stephansplatz, 30 Radminuten zum Hauptbahnhof
GRÜNE MITTE ⁄ LINZ
Im Jahr 2005 verkaufen die ÖBB das Gelände des ehemaligen Frachtenbahnhofs an die Stadt Linz. Ein EU-weiter Wettbewerb wird ausgeschrieben, um ein innerstädtisches Quartier mit zeitgemäßer Wohn-, Büro- und Geschäftsnutzung zu entwickeln. Sieben Wohnbaugesellschaften werden Projektpartnerinnen. 2010 steht ein Bebauungsplan fest, der allerdings – nicht zuletzt aufgrund der angespannten Lage am Büroimmobilien-Markt – den Schwerpunkt auf Wohnen legt. 2012 erfolgt der Spatenstich, bis Ende 2016 werden die Wohnungen bezogen. Im südlichen Anschluss stehen weitere Flächenreserven für eine Entwicklung bereit.
– 8,5 Hektar
– 800 Wohnungen
– 52.200 m2 Wohnnutzfläche, 300 m2 Gewerbefläche
– 1,4 Hektar Park
– Zehn Radminuten zum Mariendom, sieben Radminuten zum Hauptbahnhof
SEESTADT ASPERN ⁄ WIEN
Im Jahr 1992 wird ein städtebauliches Expertenverfahren für die Nachnutzung des Flugfeldes Aspern durchgeführt aber nicht umgesetzt. Erst mehr als ein Jahrzehnt später wird die Idee wieder aufgegriffen und ein neuer Masterplan für eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas beschlossen. Eine Kleinstadt mit Nutzungs- und sozialer Durchmischung soll entstehen. 2014 wird das erste Wohngebäude bezogen. Bisher ist knapp ein Drittel errichtet. Bis 2028 soll das gesamte Gebiet fertiggestellt sein.
– Endausbau: 240 Hektar
– 10.500 Wohnungen & 20.000 Arbeitsplätze
– 3.500 m2 gemanagte Handelsfläche & 9.000 m2 sonstige Gewerbefläche
– Schulzentrum
– Stadtteilmanagementbüro
– 37 Hektar Grünraum und Badeteich
– 50 Radminuten zum Stephansplatz, 66 Radminuten zum Hauptbahnhof
Foto: Beatrice Stude, Plan: Stadt Wien
NORDBAHNHOF
Ich hab hier Vorrang!“ lächelt der Bub verschmitzt, während er mir bewusst vors Fahrrad läuft und mich zum Anhalten zwingt. Wächst hier ein neues Selbstverständnis heran? Die Fußgängerzone am Park ist für den Radverkehr freigegeben. So wie die vor der Schule, in der allerdings häufig Autos unterwegs sind – die Gestaltung der Fußgängerzone verführt dazu, die Fahrverbotsschilder zu missachten. Zumindest zwei Chancen wurden vergeben, den Nordbahnhof auf der kulturellen Stadtkarte zu verorten: Die ehemalige Busremise nutzt ein Hofer und die Straßenbahnremise ein Billa. Letztere wurde vormals für Veranstaltungen genutzt. Das Fehlen von kulturellem Angebot spürt auch die ansässige Gastronomie. Das Nordbahnhofgelände hat vorrangig eine Funktion: Es ist Wohnort. Sperrstunde ist meist um 22 Uhr, während hinter den Bahngleisen, nördlich der Praterstraße, die Bars kaum vor ein Uhr zusperren. NIMBY(not in my backyard) heißt das Phänomen. Wer will schon den Schanigarten unter dem eigenen Schlafzimmerfenster? Wenn alle Erdgeschoße gewerbliche Nutzungen hätten, wäre die Akzeptanz vermutlich höher. Die Stadtplanung hat den Bauträgern Zäune untersagt. So lässt sich das Viertel meist auf direktem Wege durchqueren. Die Gestaltung des öffentlichen Raums ist allerdings oft kontraproduktiv. Parkende Autos und Baumscheiben erzeugen Sicht- und Gehbarrieren, die den Zugang auf die Fahrbahn erschweren – in der Praxis heißt das: Radfahren auf dem Gehsteig. Die freien Zugänge haben oft hohe Randsteine. Die Menschen hier fahren zunehmend Rad. Lastenräder werden immer mehr. Öffentliche Radbügel fehlen allerdings, obwohl dies von Bewohnerschaft und Gewerbetreibenden eingefordert wird. Gäste haben keinen Zugang zu den ohnehin überfüllten Radräumen, die Pkw-Tiefgaragen erlauben keine Radabstellung und stehen zum Teil leer. Der Fokus liegt auf dem Autoverkehr, wie bei der entbehrlichen Ampel in der Haussteinstraße ⁄ Ecke Vorgartenstraße: Menschen zu Fuß, am Rad oder im Auto warten oft allein auf weiter Flur auf grünes Licht.
Fazit
+ immer mehr Radverkehr
+ kurze direkte Wege im Gebiet
– autogerecht gestalteteter öffentlicher Raum und kaum Radbügel
– wenig Erdgeschoßnutzung ⁄ Kultur
-> künftig sollte überall belebte Erdgeschoßnutzung in die Gebäude integriert werden
Foto: wien3420-bohmann, Plan: wien3420
SEESTADT ASPERN
Eine neue Stadt ensteht. Im Jahr 2028 werden hier 20.000 Menschen leben – so viele wie in Mödling. Das Gebiet liegt wie eine Insel. Der grüne Freiraum schafft bewusst Abstand zu den bestehenden Siedlungsgebieten ohne Direktanbindung für den Autoverkehr und begünstigt physisch die Funktion der Seestadt als Testlabor. Und auch ein umgesetztes Ergebnis der frühen Bürgerbeteiligung. Dirigiert wird das Ganze von der Wien 3420 Aspern Development AG als zentrale Anlaufstelle für alle. Nur die Entscheidungskompetenzen liegen verteilt. Gewerbebetriebe, teils auch Büros und der Wohnteil sind örtlich getrennt. Die Einkaufsstraße im Wohnteil ist erstmalig zentral gemanagt. Vergeben werden Lokale jedoch nicht nur nach kommerziellen Interessen. Ein Wettbewerb schafft ökosozialen Mehrwert und bietet drei Jahre Mietfreiheit. Gewinner ist das Fahrrad-Café „United in Cycling“, dessen Betreiber mit Radkursen und Aktionen Groß und Klein Freude am Radfahren vermitteln wollen. Neu ist das eigene Radverleihsystem, welches auch E-Bikes und Lastenräder beinhaltet. Gespeist wird er aus Abgaben der Sammelgaragen für Pkw. Während meiner Erkundung fällt mir auf, dass der öffentliche Raum weitgehend barrierefrei gestaltet ist. Dennoch ist selbst in den temporeduzierten Straßen die Orientierung am Auto: Asphaltfläche in der Mitte, seitlich flankiert von Gehflächen und Grün. Das erklärt auch, warum die multifunktionalen Flächen derzeit nur als Längsparker wahrgenommen und genutzt werden. Vieles zur Mobilität, das im Testlabor Seestadt entstanden ist, stößt auf Kritik. So werden etwa mehr Parkplätze für Pkw gefordert. Um dieser Kritik sachlich zu begegnen, wird derzeit die Faktenlage erhoben und das Mobilitätsverhalten evaluiert.
Fazit
+ übergreifendes Mobilitätskonzept mit Mobilitätsfonds
+ barrierefreier öffentlicher Raum mit geringen Pkw-Stellplätzen
– teils noch reine Wohngebäude, kaum mehrgeschoßige Mischnutzung
– Trennung in Funktionen Gewerbe & Wohnen mit Einkaufen
-> Als Labor sollte die Seestadt mutiger werden (dürfen) und auch die Zeit zur Entfaltung zugestanden bekommen
Foto: Beatrice Stude, Modell: Magistrat Linz, Reinthaler
GRÜNE MITTE
Wien wächst, so auch Linz. Die oberösterreichische Landeshauptstadt entwickelt gleichermaßen für die steigende Nachfrage nach Wohnraum ihre aufgelassenen Verkehrsflächen. Die Grüne Mitte ist wörtlich zu verstehen, die Situierung der Gebäude um den grünen Kern schirmt auch den Straßen- und Bahnlärm ab. In der Lastenstraße, der einzigen Erschließungsstraße am Gebiet, liegt die Priorität mit sechs Spuren allerdings auf dem motorisierten Verkehr. Es wurde nur Platz gelassen für einen einseitigen Rad- und Gehweg: eine bekanntermaßen konfliktträchtige Verkehrsplanung. Eine erste Verbesserung brächte hier die Aufh ebung der Radwegbenützungspflicht beziehungsweise Mitbenützung der Busspur. Richtung Osten ist das Gebiet derzeit völlig abgeschnitten, die direkte Anbindung über einen gemischten Geh- und Radweg noch in Verhandlung mit den ÖBB. Die Regelungen zu den Radabstellanlagen haben sich während der Entwicklung geändert. Zuerst waren die Räder zwingend in Radräumen im Erdgeschoß unterzubringen. Dann nur mehr überdacht im Freien oder in der Tiefgarage. Gut so. Denn nun konkurrieren sie nicht mehr mit belebter Nutzung im Erdgeschoß. Einer Apotheke hat dies nichts genützt. Ihre Ansiedlung ist an der Pkw-Verpflichtung gescheitert. Das heißt, die hierfür zusätzlich zu schaffenden Pkw-Parkplätze waren in der fortgeschrittenen Planung nicht mehr unterzubringen. Die Bauherren sind hier alle gemeinnützige Wohnbaugesellschaften, die sich ohnehin mit gemischter Nutzung etwas schwerer tun. Ihr Wunsch nach Unterstützung durch Angebote der Wirtschaftsinstitutionen wurde noch nicht erfüllt. Darüber hinaus reglementiert das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz den Anteil der Mischnutzung auf ein Drittel. Überschreitungen sind kritisch und können den Verlust der Gemeinnützigkeit bedeuten.
Fazit
+ geplante Anbindung Richtung Osten und damit kurze Wege für Fuß- und Radverkehr
+ Druck auf Erdgeschoßnutzung reduziert durch angepasste Radabstellregelungen
– Automobilfokus im umliegenden Verkehrsnetz
– viele reine Wohngebäude
-> Dass gerade gesetzliche Pkw-Stellplätze einen Nahversorger verhindern, zeigt, dass die Stellplatzverpflichtung abgeschafft gehört und auch für die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Maßstab der Mensch sein muss