Blühende Hoffnung
Ob ein neuer Radständer oder eine ganz neue Verkehrspolitik: Allerorten kämpfen Bürger*innen-Initiativen für Veränderung. Was entscheidet, ob sie Erfolg haben?
Analyse: Barbara Laa und Rainer Stummer, Fotos: Peter Provaznik, Illustration: Harald Lustinger.
Von der Nachbarschaftsvereinigung, die Parkplätze durch eine Fußgänger*innen-Zone ersetzen will, über die Bürger*innen-Initiative, die für eine ganze Großstadt mehr Platz für nachhaltige Fortbewegungsarten fordert, bis hin zu den weltweit agierenden Fridays For Future: Auf allen Ebenen kämpfen Aktivist*innen für eine fortschrittlichere Verkehrs- und Klimapolitik. Ob lokal oder global, sie alle haben denselben Gegner: die Trägheit der Politik, ihre (scheinbare) Abneigung gegen Veränderungen.
In Wien hat die Initiative Platz für Wien von April bis Oktober 2020 rund 57.000 Unterschriften gesammelt, in Berlin ist der Initiative Volksentscheid Fahrrad Ähnliches gelungen (rund 100.000 Unterschriften bei 3,8 Millionen Einwohner*innen).
In ihren Zielen ähnelten sich beide Initiativen: Die Berliner*innen wollten den Radverkehr stärken, unter anderem forderten sie 350 Kilometer Fahrradstraßen, die auch für Kinder sicher sind. Die Wiener Initiative forderte 300 Kilometer sichere Radwege auf Hauptstraßen, bezog aber auch Fußverkehrs- und Klimathemen mit ein, zum Beispiel mit der Forderung nach 100 verkehrsberuhigten Wohngebieten mit hoher Aufenthaltsqualität.
Beide Initiativen starteten kurz vor einer Gemeinderatswahl und hofften, den Wahlkampf für ihre Zwecke nutzen zu können. Beiden gelang eine im Feld der städtischen Verkehrspolitik nie dagewesene Mobilisierung.
Hier enden allerdings die Gemeinsamkeiten. Daran, wie es den Aktivist*innen in den zwei Hauptstädten erging, zeigt sich, welche Faktoren darüber entscheiden, ob eine solche Initiative Erfolg hat oder scheitert.
Die Berliner*innen hatten ein politisches Instrument zur Verfügung, das Verbindlichkeit garantierte: Ein Volksentscheid ist ein dreistufiges direktdemokratisches Verfahren, das bottom-up, also von Aktivistinnen, angestoßen wird. Eine Initiative formuliert ein Gesetz, im konkreten Fall ein Fahrradgesetz. Kann sie 20.000 gültige Unterstützungserklärungen dafür sammeln, kommt es zum Volksbegehren. Unterschreiben dieses im zweiten Schritt, in der Eintragungsphase, mindestens 175.000 Menschen, dürfen in der letzten Stufe die Bürger*innen über den Gesetzesentwurf abstimmen.
So weit kam es jedoch im Fall des Volksentscheids Fahrrad nie. Im Juni 2016 reichten die Aktivist*innen die binnen vier Wochen gesammelten Unterschriften ein, fünf Monate später nahm die neu gebildete rot-rot-grüne Regierung die Forderungen des Radentscheids ins Koalitionsprogramm auf. Die Aktivist*innen erklärten den Volksentscheid daraufhin vorzeitig für beendet. Im Juni 2018 wurde das Berliner Mobilitätsgesetz beschlossen, das auf den Zielen der Initiative beruht.
Das Gesetz trat zwar später in Kraft, als die Initiative es sich gewünscht hätte, und entsprach nicht in allen Punkten ihren Vorstellungen – die SPD verhinderte zum Beispiel ein Verbandsklagerecht, das mehr Handhabe gegen Verstöße geboten hätte –, der Erfolg ist trotzdem immens. Die Stadt schuf infolge des Gesetzes die nötigen Verwaltungsstrukturen inklusive Budget und Personal, um die Forderungen umzusetzen; das Radwegnetz wächst. Außerdem wurde die Idee weitergetragen, heute gibt es in über 40 deutschen Städten und Regionen Radentscheid-Initiativen.
Ignoriert und zu Tode umarmt
In Wien lief die Sache gleich in mehrfacher Hinsicht diametral anders.
Hier gibt es kein dem Volksentscheid vergleichbares verbindliches Instrument für Bürger*innen. Um auch jenen Menschen die Unterschrift zu ermöglichen, die zwar ihren Hauptwohnsitz in Wien haben und somit unter Verkehrslärm, Platzmangel und Hitze in der Stadt leiden, die aber keine österreichischen Staatsbürgerinnen sind – in manchen Bezirken machen diese Menschen über 40 Prozent der Bevölkerung aus –, nutzte die Initiative das Instrument der Petition. Es ist niederschwellig, aber auch recht zahnlos: Ab 500 Unterschriften muss eine Petition vom Petitionsausschuss der Stadt behandelt werden. Der gibt eine unverbindliche Empfehlung darüber ab, wie die Stadt mit der Petition umgehen soll. Direkte Konsequenzen folgen daraus selten.
Platz für Wien konnte mehr Unterschriften sammeln als jede Wiener Petition zuvor. Das hat allerdings nicht zu einer Umsetzung der Forderungen geführt. Das Repertoire an Reaktionen reichte vielmehr von dem Versuch, die Initiative „zu Tode zu umarmen“, übers Ignorieren bis hin zur Unterstellung der Parteinähe, um so von der vorgebrachten Kritik abzulenken.
Im Juli 2020, vor der Wahl, übernahm die regierende SPÖ einen Teil der Platz-für-Wien-Forderungen in ihr Wahlprogramm, die Grünen als kleiner Koalitionspartner unterstützten die Petition vollinhaltlich, der Spitzenkandidat und die Verkehrssprecherin der damals noch oppositionellen Neos unterzeichneten sie öffentlich.
Narrative machen Regeln
Doch als SPÖ und Neos sich nach der Wahl zu einer neuen Stadtregierung zusammenfanden, war ihre Bereitschaft, sich den Forderungen der Initiative anzunähern, wie weggeblasen. Die SPÖ veröffentlichte ein mickriges Radweg-Bauprogramm und konzentrierte sich dann voll auf den Autobahnausbau, die Neos schweigen dazu.
Und als Reaktion darauf, dass der Petitionsausschuss erstmals in seiner Geschichte alle Bezirksvorsteher*innen zu Stellungnahmen aufforderte, schrieben einige SPÖ-Bezirksvorsteher*innen in ihren Antworten voneinander ab, viele gingen nicht auf den Petitionsinhalt ein – und die zuständige Verkehrsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) stempelte Platz für Wien in einem Falter-Interview als „grüne Vorfeldorganisation“ ab und ließ die Abgabefrist für die Stellungnahme einfach verstreichen.
Hier findet sich – neben dem unterschiedlich großen politischen Druck, den die verschiedenen Instrumente entfalten können – ein zweiter Unterschied, der eine Rolle dabei gespielt haben könnte, dass die Berliner Forderungen zumindest zum Teil umgesetzt, der Wiener Forderungskatalog hingegen völlig ignoriert wurde: In Berlin wurde nach der Wahl eine SPD-CDU-Regierung durch eine rot-rot-grüne abgelöst, in Wien eine rot-grüne Koalition von einer rot-pinken.
Den unterschiedlichen Umgang mit Forderungen nach Verkehrssicherheit und Klimaschutz nur auf Parteipolitik zurückzuführen, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Die Transformationsforschung, eine Fachrichtung in der Politikwissenschaft, die erkundet, wie Veränderung stattfindet, kann hier weiterhelfen.
Der Mainstream in einem Politikfeld richtet sich nach historisch gewachsenen Regeln. Diese können offiziell sein, in Gesetze und Richtlinien gegossen, wie im Bereich der Verkehrsplanung und -politik etwa die Straßenverkehrsordnung und die Bauordnungen. Es können aber auch inoffizielle Regeln sein, die sich aus den gesellschaftlichen Narrativen der Politik – 10jeweiligen Zeit ergeben – das Narrativ „Auto = Fortschritt“ führt zu der inoffiziellen Regel, dass nicht-motorisierte Verkehrsmittel marginalisiert werden.
Zwei strategisch wichtige Elemente
Initiativen, die eine Veränderung des Status Quo anstreben, operieren in Nischen außerhalb des Mainstreams. Diese zu verlassen, ist umso schwieriger, je grundlegender der Status Quo in Frage gestellt wird, je systemischer die geforderten Veränderungen sind.
Die Transformationsforschung kennt aus der Geschichte unterschiedliche Arten politischer Übergänge, manche friedlich und schleichend, andere – oft durch einen externen Schock angestoßen – radikal und plötzlich. Zwei Voraussetzungen sind jedoch immer strategisch hilfreich, damit Veränderung stattfinden kann.
Erstens müssen sich Akteur*innen aus verschiedenen Nischen zusammenschließen, um an Momentum zu gewinnen und den Sprung in den Mainstream zu schaffen. Durch Allianzen und organisierte Zusammenarbeit lässt sich po-litischer Widerstand eher überwinden als durch Einzelkämpfer*innentum.
Und zweitens müssen sich die Rahmenbedingungen des Status Quo verändern, etwa durch ein Aufbrechen der bestehenden Machtkonstellationen oder durch externe Einflüsse wie die Erfindung neuer Technologien oder den sich verschärfenden Klimanotstand.
Wie Chancen für kleine Erfolge entstehen können, wenn sich die Rahmenbedingungen verschieben, zeigt zum Beispiel der neue provisorische Radweg entlang der Linzer Lokalbahn zwischen Linz und Leonding. Bis vor kurzem mussten Radfahrende dort eine stark befahrene Straße nutzen, die Radlobby setzt sich schon seit Jahren für einen Radweg ein.
Im Herbst wählt nun Oberösterreich einen neuen Landtag, im beginnenden Wahlkampf zeigte sich Verkehrslandesrat Günther Steinkellner (FPÖ) – gleichzeitig Gemeinderat in Leonding – plötzlich offen für die Vorschläge der Radlobby, und seit Mai 2021 gibt es nun einen Pop-Up-Radweg auf der Strecke.
Der hat zwar einen Schotterbelag, verläuft aber fernab des Autoverkehrs durch ein kleines Weinanbaugebiet und ist daher aus Sicht der Radlobby Oberösterreich dennoch angenehmer zu befahren als die Straße. Und sobald der Ausbau der Bahnstrecke abgeschlossen ist – der genaue Zeitpunkt dafür ist noch ungewiss –, soll aus dem Pop-Up-Radweg ein regulärer werden. In diesem Beispiel war nur eine der beiden Voraussetzungen aus der Transformationsforschung erfüllt: die günstige Gelegenheit. Ein Zusammenschluss verschiedener Akteur*innen war nur bedingt gegeben, da zwar die örtlichen Radlobby-Gruppen kooperiert haben, andere Teile der Bevölkerung jedoch nicht eingebunden waren.
Beim Unterschriftenerfolg von Platz für Wien finden sich hingegen beide Elemente wieder.
Radfahrer- und Fußgänger*innen, Eltern und Ältere, Verkehrsplanungs-Ex-pert*innen und Laien verließen ihre Nischen, schlossen sich zusammen und adressierten die Stadt als Ganzes – das Argument: Eine Stadt ist nur lebenswert, wenn sie für alle lebenswert ist. Der Zusammenschluss brachte Sichtbarkeit und politische Schlagkraft und nahm Gegner*innen die Möglichkeit, die Forderungen als Spezialinteressen einer kleinen Gruppe darzustellen.
Zugleich veränderten sich die Rahmenbedingungen gleich doppelt: Die Wahlen standen an, und die Klimakrise zeigte immer stärker und alltäglicher dringenden Handlungsbedarf auf.
Diskurs schlägt Parteipolitik
Gelegenheiten wie diese gilt es zu erkennen und zu nutzen – wer Veränderungen will, muss den laufenden politischen Betrieb und sein business as usual stören und wachrütteln.
Das zeigt auch eine soeben im Journal Climate Policy veröffentlichte Studie¹ (“Climate Change Acts”) von zwei Forscher*innen der Universität für Bodenkultur Wien. Sie haben Klimaschutzgesetze in verschiedenen Ländern analysiert und sind zum Ergebnis gekommen, dass Regierungen eher starke Gesetze beschließen, wenn Klimapolitik gerade ein großes Thema im öffentlichen Diskurs ist. Dieser Diskurs und die parlamentarischen Beratungsprozesse „hatten in unseren Fallstudien sogar einen größeren Einfluss als die politische Orientierung der Regierung¹en“, heißt es in der Studie.
Misst man den Erfolg einer Bürger*innen-Initiative an der zügigen politischen Umsetzung ihrer Forderungen, ist Platz für Wien noch weit von einem solchen entfernt. Weitet man den Blick ein wenig, stellt man fest, dass das Thema Mobilität in den österreichischen Medien seit einiger Zeit merklich öfter und mit mehr Sympathie für den Rad- und Fußverkehr behandelt wird – eine Veränderung, die man durchaus (auch) auf die Debatten über Platz für Wien zurückführen könnte.
Fazit: Die geforderten Kilometer an Radwegen lassen noch auf sich warten, aber der Rahmen, in dem über die Forderung diskutiert wird, hat sich verschoben.
¹ S.L. Nash & R. Steurer: “Climate Change Acts” in Scotland, Austria, Denmark and Sweden.
Barbara Laa ist Verkehrswissenschaftlerin an der Technischen Universität Wien und Sprecherin von Platz für Wien. Rainer Stummer studiert Politikwissenschaft und ist Mitbegründer und Koordinator der Initiative.
Weiterführende Info
> “Climate Change Acts” in Scotland, Austria, Denmark and Sweden
> Platz für Wien
> Volksentscheid Berlin autofrei
> Fridays For Future
Zum Weiterlesen
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