Insgesamt 20 Monate war Petra Stranger mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Nord- und Zentralamerika unterwegs. Für unsere Leserinnen und Leser haben sie die Erlebnisse aus einer ganz besonderen Woche herausgegriffen.

Der unermesslichen Reichtum und Wohlstand, den wir in Europa haben, hat mich immer schon irritiert. Warum dürfen und können wir uns alles leisten, was wir wollen, während im Großteil der Welt so viel Armut, Not und Leiden herrschen? In Büchern darüber zu lesen und mit anderen über diese Probleme zu philosophieren, reichte mir irgendwann nicht mehr aus. Ich fühlte mich wie eine verwöhnte Europäerin, die die Welt durch eine rosarote Brille sah. Ich wollte die Welt spüren und mir durch Erfahrungen ein ehrlicheres Bild verschaffen. Radreisen erschien mir die beste Reiseform und eine zufriedenstellende Lösung für meinen Wunsch: Auf Grund des langsamen Tempos und der meditativen Bewegungen des Radfahrens konnte man spielerisch mit der Natur und seiner Umgebung in Kontakt treten.

Ich lernte Peter in 2009 kennen. Er liebte das Radreisen genauso wie ich und teilte meine Überzeugung, dass es möglich war, mit Kindern eine lange Radreise zu unternehmen. Wir durchquerten, mit unserem Sohn Ben, Europa in verschiedene Himmelsrichtungen. Nach der Geburt unserer Tochter Esmé wollten wir nur noch warten bis sie keine Windeln mehr brauchte, gehen konnte und gelernt hatte, durchzuschlafen. Dann sollte es losgehen.

Unsere Familie und Freunde reagierten skeptisch auf unsere Pläne. Wir waren umgeben von Menschen, die Wert legten auf eine Karriere, große Häuser und Autos. Warum – so hörten wir oft – mussten wir unbedingt mit Kindern eine lange Radreise machen?

Wir sind davon überzeugt, dass Persönlichkeitsentwicklung und Bildung am wichtigsten für die Zukunft unserer Kinder sind. Um in diesen Bereichen zu wachsen, ist es – unserer Meinung nach – wichtig, Erfahrungen zu sammeln, sich selbst zu fordern. Die eigenen Grenzen zu verschieben und die Welt mit den eigenen Sinnen zu erfahren. Mit diesen Überzeugungen und dem Vertrauen, dass wir unseren Kindern alles bieten können, was sie brauchen, haben wir einen Flug nach Cancun in Mexico gebucht. Das Abenteuer konnte beginnen.

Feuerspeiende Berge

Vulkane übten immer schon eine große Anziehungskraft auf mich aus und standen während unserer Reiseplanung weit oben auf der Wunschliste. Nach den ersten anstrengenden Monaten durch den Süden von Mexiko, Belize und Guatemala tauchten der schlafende Vulkan Pico de Orizaba und der erloschene Vulkan Sierra Negra vor uns auf. Wir befanden uns auf der zentralen mexikanischen Hochebene. Es war sehr angenehm, endlich der Hitze der Tropen und den Mücken entflohen zu sein. Jetzt saß Peter im Internetcafé eines kleinen Dorfes namens Atzitzintla und begutachtete nochmals die geplante Route. Wir wollten den Pass zwischen den zwei Vulkanen hinauf fahren: ein Weg ins Ungewisse.

Wir wussten nämlich nur, dass von Atzitzintla aus eine Schotterstraße bis zu einem Teleskop auf dem Sierra Negra führte. Dieser Weg gilt als höchster befahrbarer Weg Nordamerikas. Wir hofften, einen geeigneten Zeltplatz zwischen den beiden Vulkanen zu finden, um dort auf 4.000 Meter Seehöhe fünf Tage lang zu verweilen. Wir wussten nicht, wie es uns, geschweige denn den Kindern, mit der Höhe gehen würde. Atzitzintla liegt auf etwa 2.800 Meter. Unser Plan war es, maximal 500 Höhenmeter pro Tag zu steigen, um uns allmählich an die Höhe zu gewöhnen.

Vorräte und Wasser für fünf Tage und vier Personen bis ins Basislager zu schleppen, waren eine weitere Herausforderung. Wie sollten wir 40 Liter Wasser zusätzlich transportieren, wenn unsere Räder mit Gepäck, Anhänger und Kind schon etwa 80 Kilogramm wogen?

Vielleicht muss man an dieser Stelle erwähnen, dass wir eine Radreise sehr puristisch angehen. Einen Teil der Strecke mit Zug oder Bus zu bewältigen, kam für uns gar nicht in Frage. Auch wollten wir so wenig wie möglich fliegen und immer selbstversorgend und autonom unterwegs sein. Eines ist allerdings klar: Bei einer Expedition wie der unseren muss man immer wieder kreativ sein und kann nicht auf fremde Hilfe verzichten.

Für unseren Ritt zu den Vulkanen entschieden wir uns letztlich, nur für einen Tag Essen und Wasser einzukaufen. Nachdem wir unsere Räder die steinige, staubige und steile Straße bis zum Pass hinauf geschoben hatten, lief Peter wieder nach Atzitzintla zurück, kaufte genügend Essen und Wasser und bezahlte einen Mexikaner, ihn mit dessen Jeep wieder in unser Basislager hinauf zu bringen.

Ben und Esmé waren damals gerade fünf beziehungsweise zwei Jahre alt, als wir den Sattel zwischen den beiden Vulkanen erreichten. Wir hatten eine Nacht auf 3.400 Meter verbracht, bevor wir am nächsten Tag bis auf 4.000 Meter stiegen. Anfangs schien niemand große Probleme mit der Höhe zu haben. Da wir unsere Räder während des Aufstieges schieben mussten, wanderte Ben die ganze Strecke neben dem Fahrrad her, Esmé saß teilweise im Anhänger und spazierte zeitweise ebenfalls mit. Glücklich und zufrieden erreichten wir den Sattel. Es war angenehm kühl und sehr ruhig. Wir befanden uns fern von jeglicher Zivilisation, mitten in der Natur. Die Sonne tauchte unsere Umgebung in ein eigenartiges, aber wunderschönes Licht. Die Wolken schienen dem Erdboden näher zu sein als wir gewohnt waren.

Ben kämpfte in den ersten zwei Tagen mit Kopfweh und Schwindelgefühl. Die Höhe machte ihm zu schaffen, aber er konnte gut schlafen. Wir beobachteten ihn ständig. Bald verflogen unsere Sorgen. Nachdem Ben und Esmé drei Tage lang mit ihren Spielsachen im Sand gespielt hatten und sich am Lagerfeuer erfreuten – eines ihrer Lieblingsspiele zu der Zeit war es Müll zu sammeln und im Feuer zu verbrennen – verschwanden Bens gesundheitliche Beschwerden. Er spielte Fußball mit einer Gruppe Mexikanerinnen und Mexikanern, die ebenfalls auf dem Pass übernachteten, und blickte immer wieder erwartungsvoll auf den Pico de Orizaba, in der Hoffnung, dass Peter, der an diesem Morgen den Pico de Orizaba von der Südseite aus bestiegen hatte, wieder bald zurück kommen würde.

Am letzten Tag ging es Ben so gut, dass er gemeinsam mit Peter entlang der Schotterstraße auf den Sierra Negra (4.580 Meter Seehöhe) stieg. Mit Staunen begutachtete der Fünfjährige das große Teleskop, das sich dort befindet und wanderte bergauf und bergab, ohne sich auch nur einmal zu beklagen. Wir waren sehr stolz und fühlten uns bestätigt in unserer Auffassung, dass Kinder zu viel mehr im Stande sind als man glaubt.

Trockenzeit in Mexiko

Sorgen bereitet uns die Abfahrt auf der anderen Seite des Passes. Auf Google Maps war sie nur als dünner, namenloser Strich dargestellt. Angaben über Beschaffenheit und Zustand des Weges fehlten. Um herauszufinden, ob es möglich war, diesen Fußweg zu fahren, gab es nur eine Möglichkeit: es ausprobieren. Es herrschte Trockenzeit in Mexiko, und der Boden war sandig und staubig. Der Wanderweg existierte, mit meinen relativ dünnen Reifen allerdings nicht fahrbar. Ich schob mein Rad zwei Stunden lang bergab. Ben saß hinter mir im Anhänger. Die Abfahrt war nicht steil oder schwierig, aber sehr sandig. Ich wanderte gelassen talwärts.

Unten in Ciudad Serdàn angekommen, waren unsere Schuhe und Kleider vollkommen verstaubt. Genauso die Kinder: Nur Bens blaue Augen und weißen Zähne leuchteten unter dem Staub hervor. Nachdem wir fünf Tage lang der Zivilisation entflohen waren, fühlte es sich sehr ungewohnt und seltsam an, wieder in einer Stadt zu sein. Ich war meinem ursprünglicheren Ich auf dem Pass so nahe gekommen, hatte mich so sehr im Einklang mit der Natur gefühlt, dass ich mich jetzt im Beisein anderer Menschen nackt und verletzlich fühlte.

Wir suchten gerade ein Quartier für die Nacht, als uns eine etwa 70-jährige Frau auf dem Marktplatz der kleinen Stadt anredete. Maria, so ihr Name, bot uns ihre Dusche an, was in diesem Teil Mexikos soviel heißt wie ein Kübel warmes Wasser. Wir gingen mit ihr nach Hause. Ihre Freude über unser Einwilligen war groß. Sie kochte für uns, und wir durften bei ihr übernachten. Was aber noch nicht alles war. Sie bestand darauf unsere Kleider zu waschen. Maria war nach europäischen Maßstäben sehr arm, besaß keine Waschmaschine. Unsere Kleidung war wirklich sehr schmutzig. Aber Maria lies keinen Einwand gelten und wusch zwei Stunden lang unsere Kleider mit der Hand.

Diese freundliche Aufnahme, die uns eine mir Fremde zuteil werden ließ, berührte mich sehr. Ich empfand tiefe Dankbarkeit für diese Frau, die uns – nach Tagen der Einsamkeit – mit ihrer wohligen Wärme und Liebe einbettete. Von Tränen gerührt umarmte ich sie bei unserem Abschied. Ich wünschte ihr nur Gutes und hatte das Gefühl, dass ich dem Begriff der Nächstenliebe durch unsere Begegnung näher gekommen war.

Wieder zu Hause

Unser kurzes Abenteuer auf dem Pico de Orizaba und die Begegnung mit Maria waren nur zwei Erfahrungen von vielen, die unser Denken über die Welt und die Entwicklung unserer Persönlichkeiten beeinflussten. Unsere Radreise war ein gewaltiger Lernprozess für jeden von uns. Ben hat sich zu einem starken Sportler entwickelt. Er hat eine auffallend große Ausdauer und ein starkes Durchsetzungsvermögen. Er kann körperliche Unannehmichkeiten und Müdigkeit hinnehmen, ohne sich zu beklagen. Klimawandel und Umweltverschmutzung sind Themen, die uns und die Kinder sehr beschäftigen. Ben und Esmé scheinen die Notwendigkeit einer Veränderung in unserer Welt wirklich verstanden zu haben. Wir gabeln jeden Sommer, genauso wie Maria, Radreisende von den Radwegen auf, geben ihnen einen Platz zum Schlafen und kochen für sie. Ben und Esmé genießen es mit, den Reisenden ihre Erfahrungen auszutauschen.

Wir haben durch unsere Reise den Unterschied zwischen Armut und Reichtum verstanden. Menschen, die viel weniger besitzen als wir, haben uns auf unterschiedlichste Art und Weise unterstützt. Etwas, dass man in reichen Ländern seltener erlebt als in armen Ländern. Geld ist zwar notwendig für das Wohlbefinden. Ärmere Menschen scheinen allerdings über mehr Empathie zu verfügen als reiche. Ich denke dankbar und voll Bewunderung an Maria, die mir so viel gegeben hat und hoffe, dass ich mich mehr und mehr zu einer empathischen und aufmerksamen Europäerin entwickle.

Von Dezember 2016 bis September 2018 waren Petra, Peter, Ben (5) und Esmé (2) in Kanada, den USA, Mexiko, Belize und Guatemala unterwegs. Ihre Reise führte sie über 18.000 Kilometer. In den 20 Monaten wurden sie von riesigen Ameisen an ihrem Schlafplatz mitten im Dschungel attackiert. Sie waren ernsthaft besorgt, von einer Malariamücke gestochen zu werden, radelten bei Temperaturen von bis zu 49 Grad Celsius und übernachteten einmal bei minus 15 Grad Celsius und Schneefall in ihrem Zelt. 30 Mal begegneten sie einem Bären in der Wildnis, wurden drei Mal von der US-amerikanischen Polizei im Hinblick auf das Wohlbefinden ihrer Kinder kontrolliert. Zwei Tage lang fuhr ihnen die mexikanische Polizei aus Sicherheitsgründen hinterher.

Außerdem: Einmal schenkte ihnen ein US-Amerikaner umgerechnet 100 Euro. Sie verbrachten eine Nacht im Tipi bei Angehörigen des Apache-Volkes, mexikanische Freunde tischten ihnen Tamales gefüllt mit Eidechsenbein und Eidechsenei auf. Sie aßen ein Huhn, das mit heißen Kohlen eingegraben worden war und zwei Stunden später – fertig gekocht – wieder ausgegraben wurde. Sie nahmen am World Bike Forum in Mexiko City teil, schlossen unzählige Freundschaften, retteten einen Straßenhund, den sie bis nach Europa mitnahmen und der immer noch bei ihnen lebt – „unser größtes und fast das einzige Souvenir unserer Reise“.


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