Kein Tag ohne Nebelgranate
Mit medialen Inszenierungen, populistischen Maßnahmen und Sündenbockpolitik wird in Österreich von den Zukunftsfragen der Mobilität abgelenkt, schreibt Matthias Bernold in der Cover-Story für den aktuellen Drahtesel.
Es ist Freitag, der 3. August. Noch ein heißer Nachmittag in der Stadt. Ein gutes Dutzend Polizisten, einige davon auf Fahrrädern, haben in der Praterstraße ein Planquadrat errichtet. Alle Radfahrenden, die hier auf einem der beiden Richtungswege unterwegs sind, werden angehalten. Fahrräder im Hinblick auf die gesetzmäßige Ausstattung kontrolliert. Es setzt Strafmandate.
Schwerpunktaktionen wie diese setzt die Polizei zuletzt immer häufiger. Laut Angaben der Pressestelle der Wiener Landespolizeidirektion wurden – zusätzlich zu verstärkten Kontrollen auf Bezirksebene – in den Monaten Juni bis August insgesamt fünf dieser Schwerpunktaktionen durchgeführt. Bilanz: 1.375 Organstrafmandate und 443 Anzeigen wegen Fahrens bei Rotlicht, Beanstandungen wegen angeblich unzureichender Ausrüstung und Verstößen gegen das bizarre Tempo-Limit von 10 km/h bei der Annäherung an ungeregelte Radfahrerüberfahrten.
Wer jetzt beginnt, sich über die Sinnhaftigkeit derartiger Einsätze den Kopf zu zerbrechen, wer das Gefahrenpotenzial hervorstreicht, das Fahrräder im Vergleich zu überschweren SUVs innewohnt, die durch Tempo-30-Zonen und Wohnstraßen brettern oder gar die Frage formuliert wie derartige Aktionen sich mit dem Bekenntnis der österreichischen Bundesregierung zur Förderung des Radverkehrs vertragen, hat eine wichtige Lektion populistischer Verkehrspolitik nicht verstanden.
Dass es nämlich nicht in erster Linie darum geht, Maßnahmen zu setzen, die verkehrspolitisch Sinn ergeben.
Sondern darum, Schauspiele zu inszenieren, die von der eigenen Klientel mit Wohlwollen aufgenommen werden und suggerieren, hier geschehe etwas. Mit Nebelgranaten wird von fragwürdigen Maßnahmen oder von der eigenen Untätigkeit abgelenkt. Ganz nebenbei erklärt man – unter dem Applaus einer opportunistischen Boulevard-Presse – ganze Gruppen von Personen oder Verkehrsteilnehmenden zu Sündenböcken. Ängste oder Ressentiments werden gestärkt, die Gesellschaft polarisiert. Beispiele gefällig?
Was ist davon zu halten, dass die österreichische Polizei mit 700 Sturmgewehren ausgestattet wird? Nicht nur Spezialkräfte und Anti-Terror-Einheiten werden die vollautomatischen Waffen mitführen. Auch Funkwagen mit normalen Streifenpolizisten. Was diese Anschaffung angesichts sinkender Kriminalitätsraten – laut Bundeskriminalamt ein Minus von zehn Prozent bei den Anzeigen im ersten Halbjahr 2018 – bringen sollen, ist unklar.
Anderes Beispiel: die berittene Polizeistaffel, die ohne jede sachliche Grundlage, aber teuer in Anschaffung und Erhaltung (berichtet wird von 350.000 Euro im Jahr), aufgebaut werden soll. Ein fast putzig anmutender Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen.
Nur: Glaubt tatsächlich irgendjemand, die Sicherheit in unserem Land ließe sich durch reitende Cops oder mehr Feuerkraft erhöhen?
Kleines Einmaleins der Demagogie: Sündenböcke bestimmen, Personengruppen abwerten, die Bevölkerung aufwiegeln, um von tatsächlichen Problemen abzulenken. Für Trump: die „Fake News“; für Viktor Orban: Investor George Soros; für Rechte und Nationalkonservative: Ausländer und Asylsuchende. Im verkehrspolitischen Kontext kommt Radfahrenden die Rolle der Prügelknaben zu. Unerträglich der Hass, wie er einem aus Foren von Boulevardblättern und sozialen Medien entgegenschwappt.
Die undankbare Aufgabe, die Symbolpolitik gegen die erklärten Feindbilder zu exekutieren, überträgt man der Polizei. Mit den konzertierten Kontrollen gegen Radfahrende wird jene Stimmung in Teilen der Bevölkerung befeuert, die radfahrende Menschen insgesamt als Rowdies diskreditiert, die man im Straßenverkehr bedrängen oder bewusst gefährden darf. Es ist die totale Ignoranz der tatsächlichen Verhältnisse und der physikalischen Gesetze.
Es fällt auf, dass gerade die besonders fragwürdigen Regelungen in der Straßenverkehrsordnung besonders akribisch kontrolliert werden. Etwa wenn am helllichten Tag fehlende Pedalreflektoren beanstandet werden. Oder das Tempo-10-Limit, das für Radfahrende auf Radwegen gilt, die sich einer ampelfreien Kreuzung mit Radfahrerüberfahrt nähern – obwohl sie beim Queren dieser Kreuzung Vorrang haben. Einmal abgesehen davon, dass Radfahrende nicht verpflichtet sind, technische Einrichtungen an Bord zu haben, um die Fahrgeschwindigkeit zu messen, bedeutet die Regelung eine Diskriminierung von Radfahrenden. Wieso – darf man sich fragen – wird hier eigentlich nicht, so wie bei Kfz, eine Straf- und Messtoleranz von 10 km/h, zugestanden?
Wechseln wir ins Ressort von Verkehrsminister Norbert Hofer: Alle Unfallstatistiken belegen, dass überhöhte Geschwindigkeit Hauptursache von Verkehrsunfällen ist und dass Tempo die Unfallfolgen massiv erhöht. Höheres Tempo verursacht mehr Abgase, mehr Lärm, mehr Feinstaub und erhöht den CO2-Ausstoß von Verbrennungsmotoren. Es ist kein Zufall, dass die meisten Staaten in Europa niedrigere Tempolimits als Österreich haben und tendenziell danach trachten, die gefahrenen Geschwindigkeiten weiter zu senken.
Das Gegenteil davon betreibt der Verkehrsminister. Auf zwei Teilstücken der Westautobahn ließ er – zu Testzwecken – Tempo-140-Zonen einrichten. „Umweltpolitische Geisterfahrt“ nennt das Adam Pawloff, Klima-Sprecher bei Greenpeace, vor dem Hintergrund eines anhängigen EU-Vertragsverletzungsverfahren wegen zu hoher Stickoxidbelastungen gegen Österreich und dem Verfehlen der Klimaziele.
Eine Geisterfahrt, die laut Anfragebeantwortung des Verkehrsministeriums 311.000 Euro kosten wird. Zum Vergleich: Für Radworkshops an Schulen wendet das Verkehrsministerium heuer 88.320 Euro auf.
Einer Politik der Nebelgranaten setzt man am besten Fakten entgegen. Nur: Eine Behauptung ist schnell in den Raum gestellt, ihre Widerlegung aufwändig. Kaum hat man die Schleier der letzten Nebelgranate gelüftet, zündet bereits die nächste. Häufig sticht Emotion Ratio.
Und zwischen den vielen symbolischen Maßnahmen, die bloß irritieren wollen, verbergen sich einige mit gewaltigem Zerstörungs-Potenzial, die man im Trubel bald einmal übersieht: Das in Begutachtung befindliche Standortentwicklungsgesetz ist so ein Fall. Die darin vorgesehene automatische Genehmigung von Großprojekten, selbst wenn die umweltrechtlichen Verfahren noch nicht abgeschlossen sind, kann man als umweltpolitischen Super-GAU bezeichnen. Von „Aushebelung des Rechtsstaates“ spricht der Verfassungsrechtler Heinz Mayer in einem Ö1-Interview. Großprojekte wie der Lobautunnel, Mur-Kraftwerk oder Dritte Flughafenpiste könnten in Zukunft handstreichartig und ohne Berücksichtigung von Anrainer- oder Umweltinteressen umgesetzt werden.
Wie aber sieht nun eine konstruktive und zielgerichtete Verkehrspolitik vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen aus? Die Rezepte kennt man inzwischen, und sie werden vielerorts erfolgreich praktiziert. Dass sie auch unter heimischen Entscheidungstragenden bekannt sind, zeigen die Ankündigungen und Erklärungen, wie sie gerne in offiziellen Papieren vorkommen – und leider dann selten umgesetzt werden.
So spricht die Endfassung der Klima- und Energiestrategie des Verkehrs- und des Nachhaltigkeitsministeriums von Juni 2018 vom Ziel, eine Erhöhung des Radanteils in Österreich von 7 auf 13 Prozent bis 2025 zu erreichen. Was zunächst gut klingt, krankt am Fehlen konkreter Maßnahmen: Wo werden konkrete Budgetmittel zur Errichtung entsprechender Infrastruktur vorgesehen? Wo konkrete legistische und administrative Maßnahmen zur Gewährleistung fahrradfreundlicher Verkehrsplanung vorgelegt? Wer betreibt die Entrümpelung und Anpassung von StVO und Fahrradverordnung?
Es wird die Aufgabe aller in der Verkehrspolitik aktiven Kräfte sein, die Nebel immer wieder aufs Neue zu lüften und vernünftige Lösungen einzufordern. In den eingangs geschilderten Fällen heißt es: nicht die Fassung verlieren, sich zusammenschließen und gemeinsam für eine sachorientierte Verkehrspolitik stark machen.