Die Freiheitsmaschine
Die Emanzipation der Frau war eng mit dem Fahrrad verbunden. Wie gleichberechtigt ist das Radfahren heute?
Text: Clara Felis, Ruth Eisenreich, Mitarbeit Valerie Madeja, Foto: Bianca Kämpf.
„Das Radfahren hat für die Emanzipation der Frau mehr getan als irgendetwas anderes auf der Welt“, sagte die US-amerikanische Frauenrechtlerin Susan B. Anthony 1896 in einem Interview. Das Radfahren gebe Frauen ein Gefühl von Freiheit und Selbständigkeit, fuhr sie fort; die Frau auf dem Fahrrad sei „das Sinnbild einer freien, ungehinderten Weiblichkeit“.
Anthony war nicht allein mit dieser Einschätzung, ein ähnliches Zitat ist etwa auch von der österreichischen Frauenrechtlerin Rosa Mayreder überliefert. Doch obwohl das Radfahren und die Emanzipation der Frau so eng verbunden sind, sind Frauen bis heute in vielen Bereichen des Fahrradalltags unterrepräsentiert.
Offensichtlich ist das etwa beim Blick in viele Radwerkstätten – aber auch auf Österreichs Straßen sind weniger Frauen als Männer mit dem Rad unterwegs . Die Unterschiede sind nicht riesig, aber sie sind da.
Woran liegt das? Ist das Radfahren auch heute noch ein Mittel der Emanzipation? Und ist die Infrastruktur unserer Städte so geschlechtsneutral, wie wir denken?
Teil 1: Damals und heute
Mit dem Übergang vom Hochrad zum heutigen Fahrrad Ende des 19. Jahrhunderts bekamen zunächst bürgerliche Frauen, ab den 1920er-Jahren auch Arbeiterinnen die Möglichkeit, sich flexibel und unabhängig über weitere Strecken fortzubewegen. Die englischen Suffragetten sollen das Fahrrad zum Flyer verteilen oder auch als Fluchtfahrzeug genutzt haben.
Nicht alle Männer konnten sich mit dieser Entwicklung anfreunden. Radfahrende Frauen galten als unzüchtig, ihnen wurde unterstellt, den Sattel zum Masturbieren zu benützen. Pseudowissenschaftliche Texte behaupteten, das Radfahren mache Frauen unfruchtbar.
Aber die Frauen setzten sich durch. Schon 1868 fand in Bordeaux das erste Frauen-Radrennen der Welt statt. 1890 wurde der Berliner Damenradclub gegründet, 1893 der Grazer Damen-Bicycle-Club. 1894/95 radelte Annie Londonderry als erste Frau um die ganze Welt.
Das Fahrrad trug auch zu Änderungen in der Damenmode bei: Trotz der Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten Rahmenform mit tiefem Einstieg, die bis heute mit dem Etikett „Damenrad“ einhergeht, war das Radfahren mit Röcken schwierig; nach und nach fanden Pluderhosen für Frauen, nach der Frauenrechtlerin Amelia Bloomer „Bloomers“ genannt, Akzeptanz. Einengende Korsette kamen aus der Mode.
Bis heute erfordert es in manchen Ländern der Welt viel Mut, sich als Frau auf ein Fahrrad zu setzen. Aber auch in Europa sind Frauen etwa im Radsport unterrepräsentiert und bekommen niedrigere Preisgelder. Und viele kennen die Erfahrung, dass sie als Frau weniger ernstgenommen werden oder sich in männerdominierten Gruppen nicht so recht wohlfühlen.
Wie groß der Bedarf nach einem weiblicheren Umfeld fürs Rennradfahren ist, zeigt etwa die 2013 gegründete Facebook-Gruppe „Mitzi and Friends“. Sie will Rennradfahrerinnen vernetzen, gemeinsame Ausfahrten organisieren und interessierte Neulinge ermutigen – und hat heute 1.900 Mitglieder. Seit 2015 gibt es auch einen gleichnamigen Verein mit derzeit etwa 50 Mitgliedern.
Teil 2: Beim Schrauben
So wie im Radsport sind Frauen auch in den meisten Fahrradberufen eine Minderheit. Jenen, die sich in die männerdominierte Branche vorwagen, wird das nicht immer leicht gemacht. „Oft gab es Situationen, wo ein Mann mir einfach das Werkzeug aus der Hand genommen hat, statt mir zu erklären, wie etwas geht“, sagt die Fahrradmechanikerin Marianne Eberl. Sie hält heute Workshops für Frauen ab, um diesen einen niederschwelligen Zugang zum Schrauben zu geben. Gern würde Eberl auch einmal einen Workshop exklusiv für Männer halten, sagt sie – nämlich einen, der sie für ihren Umgang mit Frauen in ihrem Berufsalltag sensibilisiert.
Auch in offenen Selbsthilfe-Werkstätten bekommt man oft den Eindruck, dass die Männer mehr wissen, als tatsächlich der Fall ist. In einem geschützten Rahmen ist für viele Frauen die Hemmschwelle, Fragen zu stellen und einfach mal auszuprobieren, um einiges niedriger. Die Bikekitchen, eine Wiener Selbsthilfewerkstatt, hat daher einige Zeit lang eigene Workshops nur für FLINTA-Personen (Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre, trans und agender Personen) angeboten.
Seit Dezember 2021 gibt es in Wien auch eine FLINTA-Werkstatt mitsamt Fahrradladen: die Velo Peaches im 9. Bezirk (siehe Bannerbild v.l.: Mischa, Ana und Jovina). Die Männerdominanz in vielen Radgeschäften und -werkstätten könne ziemlich unangenehm sein, sagt Ana, eine der drei Gründer*innen. „Am Anfang dachte ich, das ist halt so, dass du dich eingeschüchtert fühlst“, sagt sie. „Ich habe es als normal empfunden, dass männliche Personen mehr vom Reparieren wissen und sich einfach mein Werkzeug und meinen Raum genommen haben.“ Mit der Zeit habe sie realisiert, dass dahinter sexistische Strukturen steckten – dass etwa Männer mehr Möglichkeiten bekommen, sich auszuprobieren und auch mal Fehler zu machen, als Frauen. Dass es auch anders geht, habe sie als Radbotin bei Unternehmen wie den Pink Pedals in Graz oder Hermes Radbot*innen in Wien erlebt.
Im Gassenlokal der Velo Peaches, das die Gründer*innen mit vielen Helfer*innen selbst renoviert haben, sind auch Männer als Kunden willkommen. Trotzdem soll die Werkstatt ein Safe Space für FLINTA-Personen sein – ein Raum, in dem diese als Mechaniker*innen sichtbar sind und sich wohlfühlen. Bald soll es hier auch Reparatur-Workshops für FLINTA-Personen geben.
Auch in anderen Fahrradbranchen vernetzen sich Frauen, um sich auszutauschen und ihre Sichtbarkeit und ihren Einfluss im jeweiligen Feld zu stärken: Frauen aus der Fahrradindustrie haben Women in Cycling gegründet, Transportlogistikerinnen den Damen Logistik Club und Women in Mobility, Radbot*innen den Verein Star Bike Messenger Association.
Teil 3: In der Stadt
In der Minderheit sind Frauen auch in der Verkehrsplanung – und dieses Ungleichgewicht hat fürs Radfahren im Alltag besonders große Folgen. Denn Verkehrsinfrastruktur ist nicht so neutral, wie man denken könnte.
Frauen sind anspruchsvoller, so scheint es zumindest auf den ersten Blick. In Städten, wo die Radinfrastruktur gut und das Radfahren generell attraktiv ist, radeln sie gleich oft oder öfter als Männer; je schlechter die Infrastruktur, desto größer der Gender Gap zugunsten der Männer, sagt Barbara Laa vom Institut für Verkehrsplanung der TU Wien (wo sie bis vor eineinhalb Jahren die einzige Frau unter rund einem dutzend wissenschaftlichen Mitarbeiter* innen war).
Studien zeigen, dass Frauen existierende Infrastruktur als weniger sicher wahrnehmen als Männer und sich von unsicheren Verhältnissen auch eher vom Radfahren abhalten lassen. Der Gender Gap beim Radfahren hat aber nicht nur mit dem persönlichen Sicherheitsgefühl und dem erlernten Risikoverhalten zu tun, sondern auch damit, dass Frauen in unserer Gesellschaft tendenziell andere Arten von Wegen zurücklegen.
Wer nur in die Arbeit und zurück fährt, hat zwei oft relativ lange Wege zu bewältigen. Wer Teilzeit arbeitet, aber fürs Einkaufen zuständig ist und die Kinder in den Kindergarten, zum Arzt oder zum Sport bringt, legt komplexe Wegeketten aus vielen kurzen Strecken zurück. Unsere Städte aber sind auf die erste Art von Wegen ausgelegt, darauf, dass man schnell und effizient von A nach B, vor allem vom Stadtrand ins Zentrum kommt. Das gilt nicht nur für die Verkehrsmittelwahl (Autos bevorzugt), sondern auch für die Infrastruktur für einzelne Verkehrsmittel.
Eines der Erfolgsrezepte der Fahrradstadt Delft, schreiben die Mobilitätsexpert* innen Melissa und Chris Bruntlett in ihrem Buch „Curbing Traffic“, sei, dass es dort nicht nur ein grobes Netz von schnellen Fahrradrouten gebe, sondern drei unterschiedlich enge Netze für verschiedene Arten von Wegen. „Solange keine feinkörnigeren Routen gebaut werden, die Schulen, Supermärkte und Arztpraxen verbinden“, schreiben sie, „werden Frauen in der Minderheit bleiben, egal wie sicher das Radfahren gemacht wird“.
Auch die Qualität der Infrastruktur wird wichtiger, wenn man nicht alleine unterwegs ist: Wer ein Kind dabeihat, ob im Anhänger, im Lastenrad oder im Kindersitz, für den sind schmale Radwege, scharfe Kurven, Kopfsteinpflaster und Radstreifen mitten im Kfz-Verkehr ein noch größeres Problem als für andere Menschen.
Wie viel die Faktoren Wegeketten und Kinderbetreuung ausmachen, darauf deutet die aktuellste österreichische Mobilitätserhebung 2013/14 hin. Die Art von Wegen, für die die Befragten – unabhängig vom Geschlecht – am seltensten das Rad nahmen, waren die Begleitwege, also Wege zum Bringen oder Abholen anderer Personen. Zugleich lag der Anteil der Bring- und Holwege an allen zurückgelegten Wegen bei Frauen deutlich höher als bei Männern.
Mit biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern hat all das wenig zu tun. „Unsere Städte sind für Männer gebaut“, heißt es oft in Texten zum Thema – korrekter ist eigentlich: Unsere Städte sind für Menschen gebaut, die viel erwerbsarbeiten und keine Kinder betreuen.
Der italienische Psychologe Gabriele Prati verglich 2018 den Gender Equality Index verschiedener EU-Staaten mit den jeweiligen Geschlechterunterschieden beim Radfahren. In wenig gleichberechtigten Staaten gaben wesentlich mehr Frauen als Männer an, nie radzufahren; in gleichberechtigteren Ländern gab es kaum Geschlechterunterschiede. Zum Teil hat das wohl mit Rollenbildern zu tun: Wo traditionelle Geschlechterrollen stark sind, werden Buben eher als Mädchen zum Radfahren ermutigt. Besonders stark war aber der Zusammenhang mit jener Kategorie des Gender Equality Index, in der es um die mit Haushaltstätigkeiten verbrachte Zeit geht. Wo die Care-Arbeit gleichmäßiger verteilt ist, ist auch das Radfahrverhalten ähnlicher.
Im Jahr 2020 forderten zwei (männliche) Berliner Verkehrsplanungs-Professoren eine diversere Zusammensetzung des Gremiums, das in Deutschland die Richtlinien für die Verkehrsplanung erstellt. „Die beteiligten Personen (weitgehend männlichen Geschlechts) verfügen über hohen technischen Sachverstand“, schrieben sie. Bei technischen Fragen sei das auch sinnvoll. Dass „verschiedene gesellschaftliche Nutzer*innengruppen, z. B. Kinder, Seniorinnen und Senioren, Nichtregierungsorganisationen oder Vertreter anderer Perspektiven“ nur selten eingebunden würden, bringe aber bei Fragen, bei denen es um gesellschaftliche Abwägungen und Prioritätensetzungen gehe, das Risiko mit sich, „dass sich ausschließlich technische und technokratische Sichtweisen durchsetzen“ und der Status quo sich kaum verändere.
Die aktuelle, 2014 veröffentlichte Fassung der österreichischen Richtlinien und Vorschriften für das Straßenwesen (RVS) zum Thema Radverkehr wurde in einem Ausschuss erarbeitet, in dem 32 Menschen saßen. Darunter waren zwei Helmuts, zwei Alexanders, zwei Bernds, drei Martins, vier Michaels – und eine einzige Frau.
Weiterführende Info
> velo peaches – Bicycle Shop and Repair
> Mitzi and Friends Women’s Cycling Club
> Women in Cycling
> DamenLogistikClub (DLC)
> Women in Mobility
> Star Bike Messenger Association (*bma)
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